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29.07.2020

Marian Turski schreibt an Mark Zuckerberg: "Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen"

 
 
Marian Turski © Boris Buchholz

Marian Turski © Boris Buchholz

 

 

 

Hass-Posts und Holocaust-Leugnung dürfen nicht länger auf Facebook geduldet werden, findet Marian Turski, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees. Im Rahmen einer Aktion der Jewish Claims Conference und von Holocaust-Überlebenden wendet er sich in einem offenen Brief direkt an Mark Zuckerberg, den Chef von Facebook. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" veröffentlichte den Brief.

Sehr geehrter Herr Zuckerberg,

ich heiße Marian Turski und habe das Getto in Łódź (Getto Litzmannstadt), Auschwitz und zwei Todesmärsche – von Auschwitz nach Buchenwald und von Buchenwald nach Theresienstadt – überlebt.

Ich möchte Ihnen eine Episode aus meinem Leben erzählen. Nein, nicht aus der Zeit des Holocaust. Sie ereignete sich zwei Jahrzehnte später. Ein britischer Regisseur drehte einen Dokumentarfilm über die Reise von vier jungen Neonazi-Führern aus Großbritannien, Frankreich, Österreich und Deutschland zur Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Er fragte mich, ob ich sie nicht begleiten wolle. Diese jungen Neonazis waren dafür bekannt, dass sie leugneten, dass der Holocaust überhaupt stattgefunden hat, und einer von ihnen hatte öffentlich erklärt, Juden nicht die Hand zu geben. Dennoch hielt ich es für meine Pflicht – bitte glauben Sie mir: für einen Überlebenden eine sehr schwere –, den Neonazis entgegenzutreten. Gerade weil es junge Leute waren.

Irgendwann sagte einer meiner Gesprächspartner, ein – ansonsten sehr belesener und gut ausgebildeter – dreißigjähriger Deutscher zu mir: „Und welche Beweise haben Sie dafür, dass eine Million Juden in Auschwitz umgekommen sind und dass dies keine Zahl ist, die Sie erfunden haben, um Entschädigungen zu fordern? Die Deutschen sind sehr gewissenhaft, wenn es so gewesen wäre – gäbe es bestimmt Register.“ Ich entgegnete: „Und wie erklären Sie sich die Tatsache, dass mein Vater und mein kleiner Bruder nach der Selektion in die Richtung der Gaskammern und Krematorien getrieben wurden und am nächsten Tag niemand sie je wieder gesehen hat?“ Darauf er: „Was beweist das? Vielleicht sind sie geflohen, nur Sie kennen ihr weiteres Schicksal nicht...“

Sie können sich vorstellen, sehr geehrter Herr Zuckerberg, wie sehr eine derart dreiste Leugnung des Holocaust einen Überlebenden wie mich beleidigen, schmerzen, ja sogar verletzen kann. Aber sollte die Beleidigung meiner Person, mein Schmerz ausreichen, um ein Verbot der Verbreitung von Meinungen zur Leugnung des Holocaust zu fordern? Nein, Freiheit und das Recht auf Meinungsäußerung, auch wenn sie einen Einzelnen schmerzt, sind ein Bestandteil des demokratischen Systems. Aber: Sieht das demokratische System keinerlei Einschränkungen vor? Das tut es! Eben wenn die Handlungen eines Individuums oder einer Gruppe die Freiheit oder die Existenz anderer Individuen oder Gruppen gefährden.

Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen. Auschwitz hat sich Schritt für Schritt eingeschlichen, von kleinen diskriminierenden Verordnungen bis zum massenhaften Völkermord. Auschwitz konnte unter Umständen geschehen, unter denen die Menschen verdummt und an eine Lüge nach der anderen gewöhnt wurden, mit Hassrede auf Hassrede überflutet wurden. Am Ende dieses Vormarschs von Lüge und Hassrede stand die Anstiftung zum Mord. Deshalb ist die Leugnung des Holocaust heute so tödlich für das demokratische System.

Die Römer pflegten zu sagen: Caveant consules! Was bedeutete: Mögen diejenigen, die Macht ausüben, besonders wachsam und sensibel sein. Sie, Herr Zuckerberg, sind einer der Potentaten der Macht, der sogenannten vierten Gewalt, denn Facebook ist ein Teil der vierten Gewalt. Wenn auf Facebook jemand dazu anstiftete, mich, Marian Turski, umzubringen, dann glaube ich, dass Sie das sicher für unzulässig halten würden. Aber Menschen, die heute den Holocaust leugnen, verfolgen eine Ideologie, die den Tod von sechs Millionen Marian Turskis verursacht hat, und geben sie an die junge Generation von heute weiter.

Deshalb appelliere ich heute an Sie, – nicht wider die Demokratie, sondern der Demokratie zuliebe – nicht zuzulassen, dass Holocaust-Leugner auf Facebook in Erscheinung treten.

Hochachtungsvoll
Marian Turski