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21.04.2023

Marian Turski's Rede zum 80. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto

 
 
Marian Turski, Auschwitz-Überlebender und Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees, während seiner Rede im Rahmen der zentralen Gedenkzeremonie zum 80. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto in Warschau am 19.4.2023. Bild: Spiegel Online

Marian Turski, Auschwitz-Überlebender und Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees, während seiner Rede im Rahmen der zentralen Gedenkzeremonie zum 80. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto in Warschau am 19.4.2023. Bild: Spiegel Online

 

 

 

Rede von Marian Turski, Auschwitz-Überlebender und Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees, bei den staatlichen Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto am 19.4.2023 in Warschau.

 

„In der Hand ein Brecheisen oder einen Knüppel,

bitten wir Dich, oh Gott, um einen blutigen Kampf.

Wir bitten Dich um einen gewaltsamen Tod,

mögen unsere Augen, bevor wir sterben, keine Schienen sehen,

die unter uns herlaufen.

Doch gib unseren Händen Zielgenauigkeit, oh Herr,

damit die blaue Uniform blutig wird. (...)

Dies ist unser Frühling! Der Gegenangriff! (...)“

Und so mit dem Wort „Gegenangriff“ – betitelte Władysław Szlengel, ein polnischer Dichter und Jude, der im Warschauer Ghetto inhaftiert war, sein Gedicht. Ich habe nur ein paar Zeilen draus zitiert. Das Gedicht wurde vor dem Ausbruch des Aufstandes am 19. April 1943 geschrieben. Der Dichter selbst, Władysław Szlengel, überlebte den Beginn des Aufstandes in einem Bunker. Nicht weit davon entfernt – zwei Querstraßen weiter – in der Świętojerska-Straße wurde er am 8. Mai aus dem Bunker herausgeholt und von den Deutschen ermordet.

Unsere Zivilisation hat sich mindestens ein Dutzend Symbole von Widerstand und Heldentum angeeignet. Ich habe das Recht zu sagen, dass die Aufständischen des Ghettos vor achtzig Jahren die umliegenden Straßen – Gęsia, Miła, Niska, Muranowska – in jüdische Thermopylen, in ein wiederholtes jüdisches Masada, in eine jüdische Westerplatte verwandelt haben.


Sehr verehrte Damen und Herren!

wir treffen uns heute hier vor einem Denkmal, dessen Autor ein Absolvent der Warschauer Kunstakademie, Natan Rapoport, ist. Wir sind, glaube ich, aus drei Gründen hier versammelt.


Der erste Grund: Wir wollen den Bewohnern des Ghettos unsere Bewunderung und Anerkennung für ihren Heldenmut, ihre Entschlossenheit, ihr Leiden und ihr Martyrium aussprechen.

Schauen Sie sich dieses Denkmal an. Was Sie vorne sehen, also was wir jetzt am besten sehen können, sind die Figuren der Kämpfer, mit einem Messer, mit einer Granate, mit einem Gewehr.

Aber schauen Sie sich bitte auch die Rückseite des Denkmals an. Da ist eine Prozession von Zivilisten. Von denjenigen, die sich bis zum Schluss geweigert haben, ihre Angehörigen, die wehrlosen Alten oder Frauen zu verlassen.

Das sind die zwei Seiten desselben Leidens und desselben Heldentums!

Wir würdigen Personen, die den Widerstand symbolisieren, wie Mordechai Anielewicz von der Jüdischen Kampforganisation oder Paweł Frenkel vom Jüdischen Militärverband. Keiner dieser Kämpfer ist mehr auf der Welt. Aber es gibt noch, wenn auch nur sehr wenige, Menschen, die im aufständischen Ghetto von Warschau gelebt haben, weil sie damals Kinder waren.

Gerade hier, jetzt, unter uns, ist Hena Kuczer. Damals ein 11-jähriges Mädchen. Ihre beiden älteren Brüder waren schon viel früher auf den Umschlagplatz gekommen. Der befand sich ebenfalls zwei Querstraßen von hier entfernt, aber in die andere Richtung. Doch bevor sie in die Gaskammer abtransportiert wurden, erlebten Menschen wie sie auf dem Umschlagplatz mehrere Tage voller Qualen und Demütigungen. Sie wurden von den Deutschen und den Ukrainern und Litauern, die mit ihnen kollaborierten, gequält. Für einen Schluck Wasser mussten sie mit einer Uhr oder Hunderten von Zloty bezahlen.

Die 11-jährige Hena begleitete am Ende des Aufstandes ihren Vater und ihren Bruder bei der Flucht durch die Kanalisation, um dem Feuermeer zu entkommen, das sie umgab. Dort starben beide. Glücklicherweise überlebte Hena Kuczer. Um sich zu retten, musste sie ihre Identität verbergen und einen neuen Namen annehmen – Krystyna Budnicka. Heute ist sie Ehrenbürgerin der Hauptstadt Warschau.

Liebe Krysia, ich möchte Dir Ehrerbietung und Bewunderung zeigen. Du bist meine Schwester in Leid und Elend!


Der zweite Grund, warum wir heute hier stehen, ist, um die Frage zu stellen: Wie ist es dazu gekommen und warum?

Ich will die Schuld der Deutschen, die vom Faschismus versklavt wurden und Hitler unterstützten, nicht kleinreden. Ihre Schuld gegenüber vielen Ländern, Völkern und gesellschaftlichen Gruppen. Sie waren es, die etwas Unvorstellbares herbeigeführt haben – die fast vollständige Auslöschung eines Volkes – der Juden.

Aber den Nährboden dafür gab es doch schon seit vielen Jahrhunderten! Dieser Nährboden war der Antisemitismus. Und hier kann ich nicht umhin, Fragen zu stellen – warum?!

Warum empfinden die Menschen Angst vor jemandem, der als Fremder angesehen wird? Warum führen Vorurteile und Ressentiments gegen diesen Fremden zu seiner Ausgrenzung in der Gesellschaft?

Warum wird diese ausgegrenzte Person dann dehumanisiert, entmenschlicht?

Warum hat sich der Antisemitismus vom Misstrauen gegenüber dem Fremden über die Ausgrenzung aus der Gesellschaft bis hin zum fanatischen Hass entwickelt – bis zur Ausrottung?

Warum muss er auch heute immer noch bekämpft werden?


Meine verehrten Damen und Herren – und dies ist der dritte Grund: Jede Generation liest die Tatsachen aus der Vergangenheit aus ihrem eigenen Blickwinkel. Sie vergleicht die Ereignisse der Vergangenheit mit der Gegenwart. Ich möchte sagen, was mir heute vor allem in den Sinn kommt, wenn ich an die Ereignisse vom April und Mai 1943 denke.

Ich war nicht im Warschauer Ghetto. Ich befand mich in einem anderen Ghetto – dem Ghetto von Łódź (Litzmannstadtghetto). Ich kam nach Auschwitz und überlebte zwei Todesmärsche. Den letzten von Buchenwald nach Theresienstadt. Dort brachte mir die Sowjetarmee, die mehrheitlich aus Russen bestand, die Freiheit. Meine Dankbarkeit ihnen gegenüber, gegenüber denen, die mich aus den deutschen Lagern befreit haben, wird mich bis zum letzten Tag meines Lebens begleiten.

Aber kann ich denn gleichgültig sein, kann ich schweigen, wenn heute die russische Armee einen Nachbarn überfällt und dessen Land annektiert? Kann ich schweigen, wenn russische Raketen die ukrainische Infrastruktur zerstören – Häuser, Krankenhäuser, Kulturdenkmäler? All dies wird doch schließlich zu einem starken Anstieg der Sterblichkeit und einer Senkung des Lebensalters von Hunderttausenden von Zivilisten führen!

Kann ich schweigen, wenn ich das Schicksal von Butscha sehe, während ich weiß, wie die Deutschen das polnische Michniów, das belarussische Chatyn, das tschechische Lidice oder das französische Oradour vernichtet haben?

Einer der Befehlshaber des Ghettoaufstands, Marek Edelman – ich hatte das Glück, ihn zu kennen und habe oft mit ihm gesprochen – wiederholte oft die bezeichnenden Worte: „Das Wichtigste ist das Leben! Und wenn man das Leben hat, dann ist die Freiheit das Wichtigste! Und oft kommt es vor, dass man für diese Freiheit sein Leben wieder opfern muss!“.

Sehr geehrte Herren Präsidenten,

Verehrte Versammelte,

Liebe Freunde,

vor genau 125 Jahren rief Emil Zola als Reaktion auf die antisemitische Dreyfuss-Affäre: „J`accuse! Ich klage an!“. Dieser Ausruf von Emil Zola erschütterte Frankreich – und in gewissem Maße auch Europa. Ich denke, ich bin zutiefst davon überzeugt, dass heute – zu Ehren der Ghetto-Aufständischen, von hier aus, von Warschau, dieser Ruf wiederholt werden sollte: „J`accuse!“

Gegen Antisemitismus!

Gegen Menschenrechtsverletzungen!

Gegen Diskriminierung!

Gegen den Überfall auf das Land des Nachbarn!

Gegen die Verfälschung von Geschichte!

Gegen die Missachtung der Interessen und des Willens von Minderheiten (welcher Art auch immer) durch die Mehrheit (welcher Art auch immer), die an der Macht ist!

J`accuse! Ich klage die Menschen an, die dem Bösen gegenüber gleichgültig sind.

Menschen, seid wachsam! Hass ist der einfachste Weg, um Unterstützer zu gewinnen. Aber wird er nicht den Untergang bringen – für mich, für Dich, für unsere Kinder und Enkelkinder?

Deshalb klage ich diejenigen an, die Hass säen – J`accuse.