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29.03.2022

Überlebende des Holocaust und der Krieg »Es ist ein Zurückgeworfenwerden in den Abgrund«

 
 
Der Holocaust-Überlebende Boris Romantschenko wurde am 18. März 2022 bei einem russischen Raketenangriff in der ostukrainischen Stadt Charkiw während des Überfalls Russlands auf die Ukraine getötet. Bild: IMAGO / photo2000

Der Holocaust-Überlebende Boris Romantschenko wurde am 18. März 2022 bei einem russischen Raketenangriff in der ostukrainischen Stadt Charkiw während des Überfalls Russlands auf die Ukraine getötet. Bild: IMAGO / photo2000

 

 

 

Boris Romantschenko überlebte die Schoa – dann tötete ihn eine russische Rakete. Nun versuchen Helfer, andere betagte Holocaustüberlebende in der Ukraine zu retten. Warum ist das so schwierig?

Ein Interview von Heike Janssen, Der Spiegel

SPIEGEL: Der Tod des Holocaustüberlebenden Boris Romantschenko durch einen russischen Bombenangriff hat weltweit für Entsetzen gesorgt. Haben Sie Reaktionen Holocaustüberlebender aus der Ukraine erhalten?

Zur Person
Der Schriftsteller Christoph Heubner, 72, ist Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees und Mitglied des Vorstandes der Stiftung für die Internationale Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim/Auschwitz.

Heubner: Wir haben aus verschiedenen Quellen von Holocaustüberlebenden und ihren Familien in der Ukraine gehört. Da sind zwei Gefühle. Das eine ist: »Das kann doch nicht wahr sein. Alles, wofür wir nach unserer Befreiung aus den Lagern gelebt haben, wird zerstört und entwürdigt. Wir sind zum Schweigen gebracht worden, jetzt ein zweites Mal.« Das zweite Gefühl ist: »Wir, die ukrainischen Überlebenden, werden von den belarussischen und russischen getrennt.« Durch die Nähe, dieses gemeinsame Erleben in Auschwitz und anderen Lagern, waren sie eigentlich eng verbunden. Dass das jetzt alles zerstört wird und sie übrig bleiben wie Restbestände einer Geschichte, die man nicht mehr braucht, weil man neue Kriege beginnt – das ist für sie sehr, sehr bitter.

SPIEGEL: Boris Romantschenko starb während eines Luftangriffs auf die ukrainische Stadt Charkiw, seine Wohnung brannte völlig aus. Was können Sie aktuell zur Situation Holocaustüberlebender in der Ukraine sagen?

Heubner: Ihr Leben ist geprägt von großer Angst, vor allem um ihre Familien. Für viele ist die wieder aufgebaute Familie ein Neuanfang gewesen: dass das Leben weitergeht, dass die Zerstörung ihrer Familien nicht endgültig gewesen ist. Jetzt zu merken, dass sie am Ende ihres Lebens ihre Familien in die gleiche Entsetzlichkeit entlassen, in die sie hineingeraten waren, ist nicht nur bitter. Wieder gibt es Zerstörung, die zu ihnen hinreicht. Der Hass ist reaktivierbar, die Menschheit wird in die gleichen Mechanismen von Zerstörung, Gewalt und gegenseitiger Ausgrenzung hineingepresst. Es ist ein unendliches Gefühl der Trauer. Man hat nichts gelernt aus unserer Geschichte.

SPIEGEL: Welche Hilfsmaßnahmen gibt es konkret für Holocaustüberlebende in der Ukraine?

Heubner: Es gibt von der Jewish Claims Conference über die jüdischen Gemeinden bis hin zu den Gedenkstätten in Deutschland Kontakte zu Überlebenden. Die vernetzen sich, bieten Mitmenschlichkeit an und sagen: »Wenn ihr Hilfe braucht, meldet euch. Wir sind da.« Regelmäßige, abendliche Anrufe, damit man sich die Last von der Seele reden kann, sind derzeit das Wichtigste. Fluchtwege zu vermitteln wird im Moment immer schwieriger, weil die Grenzen Richtung Westen fast dicht sind. Man hört von Menschen, die jetzt sogar versuchen, über Russland und Finnland das Land zu verlassen. Gleichzeitig hört man von den meisten Überlebenden: »Wir wollen bleiben, wir wollen nicht weg. Wir werden dieses Land und unsere Identität als Ukrainer nicht aufgeben – und auch unseren Stolz nicht.« Vielleicht ist das eine der Konsequenzen aus ihrer Zeit in den Lagern: dass sie sich als Menschen nicht brechen lassen. So wie sie sich damals nicht haben brechen lassen.

SPIEGEL: Wer kümmert sich um die vielen Holocaustüberlebenden, die momentan nicht evakuiert werden können?

Heubner: Da gibt es mittlerweile wirklich gut funktionierende Netzwerke der jüdischen Gemeinden, von Hilfsorganisationen und Nachbarschaftshilfe. Man weiß, wer soziale Ansprache braucht oder Hilfe, wenn es in die Bunker gehen muss. Die Unterstützung reicht vom Einkauf bis zum Streicheln der Hand. Das funktioniert. Und wissen Sie, was die Betroffenen besonders bewegt? Sie sagen: »Kümmert euch lieber um die Kinder. Um die, die das Leben noch vor sich haben.« Das ist die radikalste Antwort auf die eigene Erinnerung, an ihr Schicksal in den Konzentrationslagern, wo Frauen und Kinder zuerst umgebracht wurden und in den Gaskammern verschwanden.

SPIEGEL: Dieser russische Angriffskrieg bedeutet für alle Ukrainer entsetzliches Leid. Was sind die besonderen Folgen für Holocaustüberlebende?

Heubner: Ihre Versorgungsketten sind unterbrochen. Viele von ihnen leben allein und waren schon durch Corona vereinsamt. Und dann wird dieser Krieg noch obendrauf gesetzt. Sie hatten sich erhofft, dass die Isolation beendet wird, dass Kontakte über Internet und Telefon hinaus wieder möglich werden. Reisen zu den Gedenkfeierlichkeiten in die Gedenkstätten, Zusammensein mit denen, die dasselbe erlebt haben wie sie selbst. All das ist in eine unendlich weite Ferne gerückt.

SPIEGEL: Wladimir Putin begründet den Angriffskrieg mit dem Ziel der »Entnazifizierung«. Wie reagieren Holocaustüberlebende auf diese Behauptung?

Heubner: Sie fühlen sich verhöhnt von Putin durch diese zynischen Sprüche von Entnazifizierung, von denen jeder weiß, dass es unverschämte Lügen sind. Dass dieser Mensch der Oberbefehlshaber einer Armee ist, die 1945 die Lager befreit hat, dass ausgerechnet er sich nun zu diesen lügnerischen und zynischen Ausfällen hinreißen lässt, fühlt sich für sie noch zusätzlich so an, als sei die Welt irrsinnig geworden.

SPIEGEL: Was bedeutet diese Situation psychisch für die durch die Schoa Traumatisierten?

Heubner: Es ist ein Zurückgeworfenwerden in den Abgrund. All das, was sie im Leben erschaffen haben, ist im Moment entwertet. Ihre Tapferkeit, ihr Mut, das Leben zu bestehen, darüber zu sprechen und nicht im Schweigen zu erstarren. Die Rolle, die sie gefunden hatten in der Gesellschaft, im Leben, im Gespräch mit jungen Menschen hatte ja auch etwas damit zu tun, dass sie das Gefühl hatten: »Ich kann mich mit meinen Traumata, meinen Ängsten und Verletzungen verständlich machen. Ich finde Empathie.« Die finden sie natürlich weiterhin. Aber dieser Zivilisationsbruch, der jetzt von Putin initiiert worden ist, wirft sie völlig zurück. Es ist für Überlebende eine Zeit der Déjà-vus.

SPIEGEL: Die Geräusche des Krieges – Bomben, Schreie, fliehende Menschen, Kinder mit Angst in den Augen – das sind alles Eindrücke, die noch sehr tief verankert sind.

Heubner: Die lösen sehr viel aus, weil die Überlebenden die Kriegsrealität kennen. »Es hat mich wieder am Genick, es packt mich, und die Sirenen kommen näher.« Für die alten Menschen in der Ukraine waren die Jahre offensichtlich nur eine Zwischenkriegszeit. Das ist eine tief bittere Erkenntnis und macht vor allem große Angst.

SPIEGEL: Eine Anlaufstelle für ukrainische Geflüchtete in Polen ist Oświęcim, wegen der Nähe zu Krakau und der Nähe zur ukrainischen Grenze. Es ist der Ort, wo die Nationalsozialisten die Vernichtungslager von Auschwitz betrieben. Ausgerechnet Auschwitz wird jetzt zum Fluchtpunkt...

Heubner: Fast könnte man sagen, da schließt sich ein Kreis. Die Bewohner von Oświęcim haben schon damals den Häftlingen geholfen – soweit das möglich war. Mal wurde eine Scheibe Brot heimlich zugesteckt, mal gab es einen freundlichen Blick oder auch die Zusammenarbeit im Widerstand. Heute ist die Sensibilität der Bevölkerung gerade an diesem Ort groß, weil sie wissen, was Flucht bedeutet und in welchem Zustand die Menschen ankommen. All das fügt sich in dieser Stadt, die diese Geschichte hat, sehr beeindruckend zusammen.

 

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