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29. Juni 2015: Plädoyer von Rechtsanwalt Thomas Walther

„Mit einem Wort: Tränen. Nie versiegende. Immer wieder Tränen, auch nach 71 Jahren“

Thomas Walther ist einer der Anwälte der Nebenkläger im Prozess gegen den ehemaligen SS-Wachmann in Auschwitz, Oskar Gröning. Wir dokumentieren sein Plädoyer im Wortlaut:

 

Hohes Gericht!


Die Staatsanwaltschaft hat das Ergebnis der Beweisaufnahme zutreffend zusammengefasst.

Ich werde den Ausführungen der Staatsanwaltschaft nur einige Anmerkungen hinzufügen. 

In meinem Plädoyer geht es in erster Linie um etwas anderes. Ich werde über die Bedeutung dieses Prozesses für die von uns vertretenen Nebenkläger 71 Jahre nach der Ermordung ihrer Angehörigen sprechen.

Vor 71 Jahren, am frühen Morgen des 1. Juli 1944, wurde die 18jährige Eva Pusztai – heute 89 und Nebenklägerin in diesem Verfahren – damals ein naives Mädchen aus behütetem Elternhaus in Debrecen auf der Rampe an Grönings Dienstort in Auschwitz-Birkenau in den Vorhof der Hölle gestoßen.

Am 16. Mai hatte in Birkenau die Ungarnaktion begonnen.

Das Gericht und alle Prozessbeteiligten haben miterlebt, was wir hier in diesem Verfahren zwischen  dem 16. Mai 2015 bis zum heutigen Tag und voraussichtlich noch in den folgenden Tagen bis zum 11. Juli 2015 zu leisten in der Lage sind. In exakt dieser Zeitspanne wurden vor 71 Jahren 427.000 ungarische Juden nach Auschwitz transportiert und davon 300.000 sofort nach ihrer Ankunft ermordet.

Unter diesen Mordopfern waren die Familien unserer Mandanten.

Eva Pusztai und 13 weitere Nebenklägerinnen und Nebenkläger haben im Verlauf des Prozesses ausgesagt. Im Zeugenstand haben sie all das beschrieben, was mit den Worten des Angeklagten eine in ruhiger Atmosphäre ablaufende Abwicklung von Transportzügen aus Ungarn war. Er verwendete dabei das Wort vom „Versorgen“ der ankommenden Juden. Nach seiner Einschätzung waren bis zu 5000 an einem Tag „versorgt“ worden. Er meinte „vergast“, er meinte ermordet, fabrikmäßig vernichtet, verbrannt und als Asche verstreut.

Als letzte dieser Zeugen sprach nun Irene Weiss. In diesem Gerichtssaal hat ein damals 13-jähriges jüdisches Kind über ihre Ankunft im Mai 1944 in Auschwitz und ihre eigene fortdauernde Todesangst gesprochen, nachdem Mutter und Geschwister ermordet waren. Ihre Ankunft auf der Rampe wurde in Fotos der SS dokumentiert. Einer der SS-Unterscharführer, die auf den Rampenfotos zu sehen sind, war möglicher Weise Herr Gröning. Irene Weiss erklärte das Foto, welches sie auf der Rampe zeigt, als sie der eigenen Familie hinterher schaute, wie diese in Richtung der Gaskammer Nummer 4 verschwand. Die Mutter mit ihren Brüdern Gershon und Reuven zeigte Irene Weiss auf einem weiteren Foto, als sie im Birkenwäldchen eine allerletzte Stunde warten mussten, bis auch sie „versorgt“ werden konnten, wie das Vergasen von Herrn Gröning bezeichnet wurde. Niemand wird den Gesichtsausdruck der Brüder Gershon und Reuven vergessen.

Zu Beginn meiner Ausführungen möchte ich auf die von mir öffentlich wiederholt beschriebene Erwartung der von uns vertretenen Nebenkläger verweisen. Es ging und geht ihnen um die Herstellung eines Dialogs nach dem Schweigen der 70 Jahre. Sie meinen einen Dialog mit der deutschen Justiz und aber auch einen Dialog mit dem Angeklagten.

Für die Justiz hat dieses Gericht den Dialog in vorbildlicher Weise mit den Nebenklägern im Zeugenstand geführt und gefördert.

Gestern hat Herr Gröning über seine Verteidiger nochmals eine Erklärung abgegeben. Formal hat auch er sich damit an dem Dialog beteiligt.

Die Aussagen der 14 Nebenkläger haben ersichtlich dazu geführt, dass Oskar Gröning sich nochmals zu Wort gemeldet hat. In dem Fachärztlichen Gutachten von Dr. Friedrich vom 11.06.2015 zur Frage der Verhandlungsfähigkeit war die Wirkung der Zeugenaussagen auf Herrn Gröning beschrieben worden. Im Rahmen der Exploration hatte Gröning dem Gutachter berichtet, dass ihn Träume depressiven Inhalts quälen mit Erinnerungen an den Krieg aber auch an Inhalte des Prozesses. Und er sagte, „dass er sich nicht von den Szenen auf der Rampe befreien könne und habe auch gemerkt, dass er zuvor in vielen Fällen das Ausmaß des Leids nicht zu Ende gedacht hat.“

Am Ende meiner Ausführungen werden Sie erkennen, aus welchen Gründen die ergänzende Erklärung von Herrn Gröning für die Nebenkläger enttäuschend ist.

Ich möchte nun mit meinen Ausführungen zurückkehren nach Auschwitz-Birkenau, wo während der Zeit des Krieges von der SS und eben auch vom Angeklagten die Ermordung der europäischen Juden – also von Millionen unbewaffneter Zivilisten – industriell betrieben wurde.

„Nichts –NICHTS  solle aber geschehen in einem Krieg, was einen späteren Frieden unmöglich macht“, hat Kant in seiner philosophischen Schrift „Zum Ewigen Frieden“ gesagt.

So hätte Auschwitz – so hätte der Holocaust – also niemals geschehen dürfen.

Entsetzen hilft da nicht. Mitleid auch nicht.

Ich vertrete zusammen mit meinem Kollegen Cornelius Nestler 51 Nebenkläger. Mit vielen von ihnen habe ich im Jahr vor dieser Hauptverhandlung lange Gespräche und Interviews geführt. Sie können wegen ihres Alters heute nicht hier sein. Ich darf daher Mit der Ich-Stimme, aber in den Worten meiner Mandanten über „das, was in diesem Krieg nie hätte geschehen dürfen“ das folgende sagen:

Wir Überlebende von Auschwitz haben das Recht zu klagen und auch für unsere ermordeten Familien die Pflicht zur Klage.

Wir klagen über Leid und Verlust, wir klagen über unsere Einsamkeit, wir klagen über grausamstes Töten, wir klagen über die Abwesenheit eines millionenfachen Kaddish an den Totenbetten unserer ermordeten Familien, deren Stimmen in Auschwitz verstummten. Wir klagen über die Zeit, die keine Wunden heilt, aber diese immer tiefer in unsere Seelen brennt. Wir klagen über das Schreien in uns selbst, welches wir auch heute noch unterdrücken, um als „normale Menschen“ gelten zu können.

Und wir spüren und erleiden Tag für Tag das Erinnern an unsere geweinten und ungeweinten Tränen.

Inzwischen sind wir nach Jahrzehnten nun auch erfahren geworden im Erleben des Sterbens, weil wir unsere eigene Generation von Überlebenden über die Schwelle zum Tod begleiten. Wir mussten das Schiwa-Sitzen als Ritus der Bestattung unserer Toten erst sehr spät in unserem Leben lernen. Unsere eigenen Vorgenerationen sind ohne die Gegenwart unserer Trauer mit der Asche von Auschwitz in alle Winde, Flüsse und Sümpfe verstreut worden. Unsere Eltern konnten uns einen jüdischen Bestattungsritus nicht lehren.

Und wenn WIR nicht mehr sind, WER wird sich erinnern?

Wird sich die Welt die Fähigkeit zum Erinnern bewahren oder dereinst das kollektive Vergessen die Oberhand gewinnen?

All unsere Klage lebt in uns. Dieser Tod von Auschwitz ist Teil unseres Lebens.

Erst von unseren Anwälten erfuhren wir, dass wir in unserer allgegenwärtigen Klage auch im Strafverfahren gegen Oskar Gröning zu diesem deutschen Gericht sprechen dürfen und wir mit unserem Schmerz und unseren Klagen Gehör finden werden.

Als Nebenkläger durften wir Zeugnis ablegen.

All unsere Fragen leben in uns. Diese Fragen sind Teil unseres Lebens.

Als Vertreter meiner Mandanten werde ich im Folgenden versuchen, auf einige dieser Fragen Antworten zu finden.

Warum werden wir erst 70 Jahre nach Kriegsende von unseren Anwälten zu diesem Gerichtsverfahren gegen einen der SS-Männer geführt, ohne die der Mord an den Juden Europas in Auschwitz nicht möglich gewesen wäre? Im Sinne von Kant wäre ohne diese SS-Männer wie Gröning „Auschwitz in diesem Krieg nicht geschehen“.

Die Unfähigkeit von Tätern und Helfern aus Auschwitz, das Wort MORD in seiner alle Zweifel ausschließenden Eindeutigkeit für den eigenen Tatbeitrag zu verwenden, und sich stattdessen hinter den SS-Befehlsstrukturen zu verbergen, gilt auch für Oskar Gröning. Die katastrophale Folge dieser bedingungslosen Hingabe an den Befehl erzeugt die Preisgabe jeder Verantwortung.

Das wird auch überdeutlich in der ergänzenden Erklärung von Gröning. Er spricht von der „Bequemlichkeit des Gehorsams, der keine Widersprüche zuließ“ und sagt, dass er unmittelbar mit den Morden nichts zu tun gehabt habe. Er habe lediglich dazu beigetragen, dass das „Lager Auschwitz funktioniert hat“. Mit der Mordmaschinerie bringt er sich nicht in Verbindung. Er registrierte tagtägliche „Ungeheuerlichkeiten“ und spricht dennoch über die Ungarnaktion in einer Weise, als ob dort lediglich in kürzester Zeit tausende von Reisenden abgefertigt bzw. „versorgt“ wurden.

Grönings Transfer von eigener SCHULD am MORD in den Bereich der MORAL schafft eine das Leben relativierende Erniedrigung. Unser jüdisches Menschenleben unterliegt nicht einer Determination des Lebensrechts durch ein Moralverständnis. Hinter der komplexen gesellschaftlichen und politischen Deformation als Wegbereiter für das barbarische Abschlachten unschuldiger Menschen hat sich das eigene ICH von Oskar Gröning unerkannt verbergen können.
Aber warum war auch die Justiz als „Dritte Gewalt“ im Staate über Jahrzehnte unfähig, das Wort MORD in seiner alle Zweifel ausschließenden Eindeutigkeit für die Tatbeteiligung all jener SS-Männer in Auschwitz zu verwenden, ohne die im Sinne von Kant „Auschwitz in diesem Kriege nicht geschehen“ wäre ?

Zu dieser Frage wird mein Kollege Professor Cornelius Nestler ausführlich sprechen.

Bereits jetzt möchte ich aber auf eine sich aufdrängende Verbindung zwischen diesen beiden Fragen hinweisen.

Die von mir genannte komplexe gesellschaftliche und politische Deformation als Wegbereiter für die Verwirklichung des undenkbarsten Menschheitsverbrechens, für welches das Wort „Auschwitz“ als Menetekel steht, löste sich nach der Kapitulation vom 7. Mai 1945 oder mit Gründung der Bundesrepublik am 23. Mai 1949 keinesfalls in ein „Nichts“ auf. Selbst das Urteil des ersten Frankfurter Auschwitzprozesses vor 50 Jahren konnte nicht eine Transformation leisten, nach der über die Beteiligung am MORD und über die Mit-SCHULD an diesem Menschheitsverbrechen mit der gleichen rechtlichen Selbstverständlichkeit  nachgedacht werden konnte, wie dies in allen anderen Verbrechensbereichen seit Jahrzehnten gang und gäbe ist.

Auch hierzu wird mein Kollege Cornelius Nestler ausführlich sprechen.

So bewegt sich Gröning in Anlehnung an die Unfähigkeit der Justiz in einem Fahrwasser, wie es von der Justiz zumindest Jahrzehnte toleriert wurde.

Für die Nebenkläger in diesem Verfahren ist dies eine bittere Erkenntnis hinsichtlich der Vergangenheit. Sie hilft aber, diese Wand des Schweigens rückblickend zu begreifen. In der Gegenwart dieses Strafverfahren bewirkt diese Erkenntnis im Gegenzug eine umfassende Achtung und Dankbarkeit auf Seiten der Nebenkläger, dass ein spätes Umdenken in der deutschen Justiz doch noch geschehen konnte.

Eine weitere Frage der Nebenkläger drängt sich auf. Es geht dabei um das grenzenlose Ermorden der Kinder.

In einer Internationalen Schule von Toronto habe ich im letzten Jahr mit Schülern, die erst 11 oder 12 waren, über Auschwitz gesprochen. Sie waren selbst Kinder. Ihre Eltern stammen aus aller Herren Länder.  Ich war erstaunt. Diese Kinder hatten bereits im Unterricht das Tagebuch von Anne Frank gelesen und weitere Unterrichtseinheiten über den Holocaust erlebt. Am Ende, als alle Fragen der Kinder beantwortet waren, meldete sich nochmals ein Mädchen und stellte mir mit zögerlichen Worten eine Frage:

„Wissen Sie“ - sagte sie – „was sie mit den Kindern machten?“

Das Kind dachte ersichtlich an sich selbst – heute leiten diese Worte über in meinen dritten Fragenkomplex.

All unsere Mandanten haben über den Mord an ihren Geschwistern berichtet. Über den Mord an Kindern wie Gilike, der Schwester von Eva Pusztai, oder Evike, der Halbschwester von Judith und Elaine Kalman, oder an Gershon und Reuven, den Brüdern von Irene Weiss.

Was bedeutet der Mord an diesen wehrlosen Geschwistern unserer Mandanten, an diesen Kindern, für die zum Leben Verurteilten?

Mit einem Wort: Tränen. Nie versiegende. Immer wieder Tränen, auch nach 71 Jahren.

Die toten Geschwister graben sich ins Bewusstsein der Lebenden. Jahre und Jahrzehnte erstarren. Kein Blatt fällt mehr vom Baum vor diesen Kinderaugen. Kein Sonnenstrahl lässt einen nächsten Morgen ahnen.

Voller Entsetzen erkennen die überlebenden Geschwister im noch eigenen Kindesalter nach Ende des Krieges eine Gesellschaft in Deutschland, die den Massenmord an Kindern nach einer Staatsmoral legalisiert hatte. - Nur 11 % der jüdischen Kinder haben den Holocaust überlebt. Diese wenigen waren als „Kinder“ eigentlich bereits „alte Leute“, deren schwerste posttraumatische Störungen sie ein langes Leben bis heute begleiten. Konkret: Bis in diesen Gerichtssaal begleiten!

Auch Therapeuten mussten – Jahrzehnte später - erst lernen, was die diversen durchlittenen Höllen von Auschwitz, Flossenbürg, Dachau oder Ebensee für die Mutationen der kindlichen Seelen auf Ewigkeit bedeuteten und bewirkten.

Allen Kindern der Welt ist die Angst vor Verlassenheit vertraut. Alle Väter und Mütter dieser Welt kennen deren Tränen und ausgestreckte Ärmchen, weil sie – die Eltern -nicht von ihrer Seite weichen sollen. Alle Weltkulturen haben in der Geschichte der Menschheit diese Ur-Sehnsucht respektiert. – Und auf eine diabolische Weise instrumentalisierte man in Auschwitz die Kehrseite von Sehnsucht als kindliche Verlassenheitsangst. Babys, Kleinkinder und Kinder blieben bei den Müttern. Dadurch konnte Panik verhindert und gemeinsamer Transport vorgegaukelt werden – bis hin zum gemeinsamen Duschen wie dies für Reuven und Gershon in Begleitung von Irene Weiss‘ Mutter galt. Die fortdauernde mütterliche Fürsorge für die Kinder war von vornherein der sichere Tod all dieser Mütter.

Nur ein Ort wie Auschwitz konnte unter den wachsamen Augen der SS-Männer in einem unendlichen Zug der zum Sterben Verdammten auch die Kinder und Babys zu Tode bringen, um den überlebenden Geschwistern die absolute Leere – das höllische Nichts – zu hinterlassen. Es gab keine Kinder mehr – aus der eigenen Welt, die für immer binnen Minuten auf der Rampe verloren waren.

Und unsere Mandanten? - Sie bleiben Jahrzehnte allein mit ihren Fragen zur Verantwortlichkeit all jener, ohne die Hitler, Himmler, Göring und Heydrich die systematische Ermordung der Juden Europas niemals hätten bewerkstelligen können.

Wer nun gern glauben möchte, dass im hohen Alter der Menschen, die 1944 in Auschwitz noch Kinder waren, das Grauen abnimmt und die Seele Frieden finden kann, unterliegt einem grundsätzlichen Irrtum. Und nicht nur Überlebende im Spektrum des Holocaust werden von den Alpträumen im hohen Alter zumeist noch mehr gequält, weil ohnehin Altersgebrechen hinzu treten und die Vergangenheit oft quälender in die Seelen zurückkehrt. Auch den Tätern und Tatbeteiligten geht es so. Oskar Gröning kennt dies. - Akute Angstzustände, die Auschwitz zur Gegenwart werden lassen, sind keineswegs selten und werden von all jenen Betreuern, Pflegern und Bezugspersonen geschildert, die sich dieser Menschen im hohen Alter annehmen.

Und wer glaubt, in den 14 vernommenen Zeugen, die gefestigten Persönlichkeiten erkannt zu haben, die psychisch stabil keinerlei externe Unterstützung benötigen, unterliegt erneut einem Irrtum. Sie mögen vor Gericht so empfunden werden, weil sie sich sorgfältig auf diesen Tag und diese Stunde selbst eingestellt haben und zuvor sehr behutsam und dennoch ausführlich von den Anwälten hinsichtlich des gesamten Verfahrens vorbereitet wurden. – Sie alle durchleiden immer wieder ihre unglaublich dunklen Stunden in der gesamten Bandbreite, deren Hintergrund durch ein Wort von Eichmann beschrieben werden kann, mit welchem er in dem bekannten Sassen-Interview sein Lebenswerk beschrieb: „Ich transportierte sie zum Schlachter“.

Aus jüdischen Kindern in glücklichen Familien wurden binnen eines Jahres bis zur Befreiung im Mai 1945 die wenigen Überlebenden des ungarischen Holocaust. Sie wussten nichts darüber, wie sie ein normales Leben führen könnten.

Mutter-seelen-allein mussten sie lernen, das Überleben zu überleben.

Die Nebenkläger, die als Zeugen vor diesem Gericht aussagen durften, haben all das Leid und den Verlust beschrieben. Und in dringend erforderlicher Bescheidenheit halte ich mir immer wieder selber vor Augen: Worte allein sind gänzlich ungeeignet das wirkliche Erleben der Hölle von Auschwitz mit Leben zu erfüllen.

Die wahren Dimensionen der Hölle von Auschwitz leben allein in den Herzen und Seelen der Überlebenden, von denen niemand nach dem absoluten Herrschaftswillen der SS Auschwitz hätte überleben sollen. Der Angeklagte bestätigte, dass ein Überleben für die Juden in Auschwitz nicht vorgesehen war und er dies Fazit auch für sich selbst verinnerlicht hatte.

Das von Gröning gezeichnete Bild eines ordnungsgemäßen „Versorgens“ der ankommenden Transporte mit den von ungarischen Juden überquellenden Viehwaggons hatte keine Ähnlichkeit mit dem, was den Menschen tatsächlich widerfuhr.

Ich möchte nur exemplarisch jene Metapher aufgreifen, die Oskar Gröning wiederholt – und auch in seiner letzten Erklärung - nutzte, um damit seine eigene Betroffenheit im Mantel eines Anflugs von Menschlichkeit zu beschreiben. Er nannte wiederholt jenes Baby, welches auf der Rampe zurückblieb, um dann von einem SS-Mann gepackt und mit dem Kopf an einen LKW geschlagen und damit „unangemessen“ grausam zum Schweigen gebracht wurde. Denn – so äußerte Gröning sich – man hätte dieses Baby auch anders töten und z.B. erschießen können.

Wie passt dieses von Gröning selbst gezeichnete Einzelbild aus der Zeit seines Dienstbeginns in Auschwitz zu seiner emotionslosen Schilderung unter dem Stichwort des „ordnungsgemäßen Versorgens“ der Transporte während der Ungarnaktion, als pro Tag bis zu 5 oder 6 Züge mit je circa 3.000 Juden eintrafen?

Ich bin überzeugt, dass mit den Aussagen der vernommenen 14 Zeugen und den Ausführungen des Sachverständigen Dr. Hördler zu dem angeblich so reibungslosen Versorgen der 437.000 ungarischen Juden sehr deutlich wurde, was wirklich geschah.

Der Tod hatte längst schon in den Waggons Einzug gehalten bevor deren Türen von den Arbeitskommandos aufgerissen wurden, die auch vom Unterscharführer Gröning befehligt und beaufsichtigt wurden.

Eine der vielen Fragen, deren Beantwortung Gröning bisher vermied, ist folgende:

Was bewirkten die Toten und Sterbenden aus den Ungarntransporten im Angeklagten selbst, als diese vor seine Füße auf die Rampe geworfen wurden? Oder sagt er: „Die gab es nicht?“

War er zu dieser Zeit an Tod und Vernichtung bereits so gewöhnt, dass nur jene eine frühe Begegnung mit einem einzigen Baby erinnerlich und erwähnenswert blieb?

Oder stammt diese Metapher vielmehr aus einem Konstrukt späterer Rechtfertigung innerhalb der eigenen Familie und sozialen Umgebung, als er sich den eigenen Söhnen und anderen in einer Weise darstellen wollte, die jedenfalls noch einen gewissen Respekt ihm gegenüber ermöglichen sollte?

Diese Wege zum Selbstverständnis dieser Generation kennt jeder, der genügend alt ist, um sich jener Zeiten erinnern zu können. In den allerersten Jahren hat man noch mit der Faust auf den Tisch geschlagen – wie Gröning – und jedem in der Familie verboten, das Wort MORD für eigenes Tun in Auschwitz in den Mund zu nehmen. Dieser Zeit schloss sich das große Schweigen in Zeiten des Wirtschaftswunders an.

Ohne „Faustschlag auf den Tisch“ hatte Gröning erst wesentlich später die vermeintliche Straflosigkeit verinnerlichen können. Das galt erst seit der folgenlosen Vernehmung von 1978 durch Oberstaatsanwalt Klein.

Längst zuvor in den 60er Jahren wurden er und seine Generation in der eigenen Familie mit der Vergangenheit „in den Zeiten des Krieges“ konfrontiert, als der Auschwitzprozess und der damalige Zeitgeist den studierenden Söhnen Fragen an den Vater aufdrängten. Herr Gröning, auch Sie hatten dieses Problem. Da nützte es Ihnen nichts, sich selbst nicht um den Frankfurter Auschwitzprozess zu kümmern.

Da war das erschlagene Baby aus der Zeit des Dienstbeginns eine geeignete Brücke für die Rückkehr zu moralischen Restprinzipien und zur folgerichtigen Beschreibung einer Reihe von angeblichen Versetzungsgesuchen an die Front.

Die Beweisaufnahme hat zu meiner Überzeugung hinlänglich deutlich gezeigt, dass jene Versetzungsgesuche nicht als existent erkannt werden konnten. Daran kann auch die vermeintliche Personalakte nichts ändern, die nach Grönings Worten auf ungeklärte Weise bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt verschwunden sein soll. Dennoch waren diese Versetzungsgesuche von eminenter Wichtigkeit für die eigene Reinwaschung. Denn nur so konnte man in den 60er Jahren noch einigermaßen sein Gesicht in der eigenen sozialen Gegenwart wahren.

Ganz zu schweigen von der Beförderung zum Unterscharführer – also Unteroffizier – die von Gröning als SS-Ausschlusskriterium für einen Dienst auf der Rampe stilisiert wurde. Wir erinnern die Fotos aus dem Auschwitzalbum, in denen uns der Historiker Dr. Hördler etliche SS-Männer mit den Rangabzeichen der SS-Unterführer auf der Rampe zeigte.

Gröning reagiert mit seiner ergänzenden Erklärung auf diesen Beweis durch den Sachverständigen und stuft seine ursprünglich behauptete Anordnung „Keine Unterführer auf der Rampe“ in eine bloße persönliche Schlussfolgerung herab. Diese Kurskorrektur erinnert fatal an die Idee von der „verschwundenen Personalakte“, die ja auch erst dann auftauchte, als ernsthafte Zweifel an der Existenz dieser Versetzungsgesuche geäußert wurden.

Der Angeklagte hat den Atem des Todes im Gestank tausender verbrannter Menschen pro Tag und Nacht während der Ungarnaktion in Auschwitz verspürt und wusste: Im Schatten des Todes von hunderttausenden Juden ist dies während des Krieges, der seinem Bruder im November 1942 das Leben kostete, der sicherste Ort für ihn persönlich.

Und er behauptet dennoch seit den 60er Jahren bis heute: „Ich wollte fort aus Auschwitz an die Front“,  wo der Tod ihm nicht als Gestank verbrannter Juden sondern als vieltausendfacher Tod deutscher Soldaten begegnet wäre und der selber auf ihn gelauert hätte. Und mehr als nur „wirklichkeitsfremd“ mutet es in diesem Kontext an, dass er 1991 als Zeuge im Kühnemann-Verfahren laut Aussage des früheren Richters Struß  auf die Frage nach den Gründen für die angeblichen Versetzungswünsche antwortete: “Weil es mir gestunken hat“. Zu derartig Antworten auf Fragen kommt es bei Vernehmungen nicht selten, wenn sich die Frage auf ein Thema richtet, welches in Wahrheit gar nicht existierte. Wenn also ein „Versetzungsgesuch“ gar nicht gestellt war.

Ich will Ihnen erklären, warum diese von meinen Mandanten als schauderhafte Lüge empfundene Geschichte als eine besonders infame Flucht Grönings aus eigener Verantwortung verstanden wird.

Das zerschmetterte Köpfchen eines jüdischen Babys dient als Einstieg in eine „Scheinempörung“, um damit ein gnadengleiches Mitgefühl und ein subjektives Empfinden für Grausamkeit zu demonstrieren. Einzig entscheidungserheblich für die Urteilsfindung an dieser Geschichte ist, dass der Angeklagte damit sein frühzeitiges Wissen vom „grausames Töten“ als Mordmerkmal einräumt.

Die 437.000 Juden aus Ungarn werden sodann – nach der isolierten Empörung über das eine erschlagene Baby - von Gröning nur noch als „große Zahl“ in kurzer Zeit mit hoher Arbeitsbelastung und als die Juden empfunden, die nach Ankunft ordnungsgemäß „versorgt werden“ mussten und vollkommen ahnungslos ohne irgendwelche Schwierigkeiten von der Rampe in den Tod gingen.

Nicht ein einziges Baby nimmt der Angeklagte in dieser Zeit der Ungarnaktion  wahr, welches auf der Rampe bereits tot aus dem Waggon geworfen oder ausgetrocknet als Leichnam im Arm einer Mutter lag oder auch nur wimmernd und kraftlos vor Hunger und Durst den letzten Stunden im Leben begegnete. Selbst ein nochmals auf der Rampe erschlagenes Baby kommt nicht mehr in seiner Schilderung vor. „Ordnungsgemäß“ ist sein maßgeblicher Begriff für die Ungarnaktion.

Die hier vernommenen Zeugen haben von ihren Familien gesprochen, die während der Ungarnaktion ermordet wurden. Das Mindeste, was unsere Mandanten in seiner neuen Erklärung erwartet hatten, nachdem Herr Gröning all diese Beschreibungen vom grausamen Tod ihrer Eltern und Geschwister gehört hatte, war eine Bezugnahme auf die eigene Beteiligung und Wahrnehmung während der Ermordung der ungarischen Juden. Nichts davon erwähnte Gröning! Er spricht nur davon, dass während der Ungarnaktion „in kurzer Zeit zahlreiche Transporte mit sehr vielen Menschen nach Auschwitz kamen.“ Kein Wort von MORD. Es habe lediglich zu einem stärkeren Arbeitsanfall beim Erfassen der Devisen geführt. Eine größere Distanz zu den Aussagen der vernommenen Zeugen ist kaum denkbar. Wenn er nun behauptet, dass angeblich „die Schilderungen der Überlebenden und Angehörigen der Opfer ihn auch sonst außerordentlich stark beeindruckt haben“, so vermeidet er zumindest jede Ausdrucksweise, die dies hätte erkennen lassen.

Ich sagte mal in einem Interview, dass „niemand in diesem Gerichtssaal vollkommen allein sein wird“. Damit meinte ich insbesondere auch den Angeklagten. Er ist in Begleitung all jener in seiner Familie, die bereits verstorben sind. Im Traum begegnen sie Herrn Gröning nach seinen eigenen Worten. Er ist aber auch in geistiger Begleitung der Generationen, die nach ihm kommen. Enkel und Urenkel sind ihm vertraut.

Und unsere Mandanten, die als Zeugen aussagten, kamen auch nicht allein. Ihre Begleitung waren die ermordeten Eltern, Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel und Nichten. Es waren oft 50 oder 60 oder mehr, die mit einem einzigen Zeugen in dem quälenden Fühlen des gewaltsamen Verlustes ganzer Familienverbände hierher nach Lüneburg kamen.

Die Nebenkläger wissen inzwischen, dass der Angeklagte Ende 1943 die Verlobte Irmgard seines älteren Bruders Gerhard heiratete, der bei Stalingrad am 20. November 1942 gefallen war. Der Angeklagte wollte ersichtlich und nachvollziehbar nun sein eigenes Leben schonen, um jedenfalls seinem im September 1944 erstgeborenen Sohn nicht nur als „gefallener Held für Führer und Vaterland“ begegnen zu können. Während meine Mandanten auf der Rampe dem Angeklagten begegneten war seine Frau Irmgard im sechsten Monat schwanger und sollte nicht zur Witwe werden, nachdem ihr vorheriger Verlobter bereits als Soldat zwei Jahre zuvor gefallen war. – Die Frage drängt sich auf: Hatte Oskar Gröning nicht auch seinem älteren Bruder Gerhard in die Hand versprechen müssen, „sich um Irmgard zu kümmern – für den Fall, dass er nicht mehr aus dem Krieg zurückkommen würde“?

Und der Angeklagte hat heute noch die Stirn, die eigenen Beiträge zu den Täuschungsaktionen für die planmäßige Vernichtung der Familienverbände dieser Zeugen – mit Babys und schwangeren Frauen -  lediglich eingebettet in angebliche Versetzungsgesuche an die Front – zum Sterbeort des eigenen Bruders - zu beschreiben, um seine eigene Schuld moralisch zu verbrämen.

Soweit Herr Gröning schließlich den Ort Auschwitz als ungeeignet für die Umsetzung seiner Familienplanung, „schnell ein Kind zu bekommen“, bezeichnet und dafür der Fronteinsatz die bessere Alternative hätte sein sollen, so sprechen die Fakten auf Grund des Geburtstermins des ältesten Sohnes dagegen. Bei einer Entbindung am 29. August 1944 lag die Empfängniszeit in der Zeitspanne vom 21.12.1943 bis 18.01.1944 – also während des Weihnachtsurlaubs als Hochzeit gefeiert wurde.

Man muss sich immer wieder vor Augen halten: Grönings vermeintliche moralische Empörung über das Geschehen in Auschwitz stammt aus einem einzigen Vorgang zu Beginn seiner Dienstzeit sowie aus der heimlichen Beobachtung einer Vergasung und Leichenverbrennung. Mit beiden Ereignissen habe er aber ohnehin selbst nichts zu tun gehabt.

Den Nebenklägern ist der tatsächliche Zusammenhang zwischen einer vollkommen bedingungslosen Hingabe an den BEFEHL und deren katastrophalster Folge bewusst. Es ist die Preisgabe jeglicher eigener Verantwortung.

Sie stellt sich als Flucht aus der Verantwortung dar und im Fall des Angeklagten als eine Art Verwandlung der eigenen Verantwortung. So wird aus Ereignissen, die längst vor der angeklagten Beteiligung an der Ermordung von 300.000 ungarischen Juden ihm begegnet waren, eine angebliche moralische Besinnung beschrieben und als Banner der Anständigkeit gehisst.

Nachdem dieser Anflug von moralischer Betroffenheit etabliert war, registriert der Angeklagte in dieser Ungarnaktion künftig unter Einbeziehung der Familien der Nebenkläger keine erwähnenswerten moralischen Anfechtungen des eigenen Ichs mehr.

Für ihn reicht es, nun einige Versetzungsgesuche als relevanten Anscheinsbeweis für menschlichen Anstand in den Jahren eigener familiärer Konflikte und des Erklärungsnotstands  zu konstruieren, in welchem jene Vatergeneration der 60er und 70er Jahre in Deutschland sich generell befand.

Heute und 50 Jahre nach den bohrenden Fragen der Zweiten Generation auf der Täterseite hätte es Gelegenheit zu einer Revision dessen gegeben, was heute nur noch allseits als Lüge verstanden werden kann.

Den Wunsch das eigene Leben retten zu wollen, wie er es im Heiratsgesuch vom November 1943 durchaus nahe liegend formuliert hatte, wäre ja auch im Rahmen des Möglichen zu berücksichtigen gewesen. So aber bleibt der verbale Versuch der eigenen Reinwaschung aus den 60er Jahren als eine der stereotypen Lügengeschichten bestehen, die in den Verfahren früherer Jahrzehnte bereits an der Tagesordnung waren.

Wenn schon der Einsatz im Vernichtungsprozess nicht zu leugnen war, schmückten auch frühere Angeklagte das Gegenwartsgewissen mit mehrfachen Versetzungsgesuchen an die Front, die nie zu belegen waren, weil es erfolglose Versetzungsgesuche von jungen kriegsverwendungsfähigen SS-Männern an die Front in jenen Jahren nicht mehr gab.

Diese Lüge ist für unsere Mandanten so erniedrigend, weil das Leid und all die Grausamkeiten der Ungarnaktion allein deshalb von Gröning in seiner Einlassung nicht erwähnt und ausgeklammert werden, weil die Generation der eigenen Söhne nicht nach derartigen Einzelheiten fragen konnte und selbstverständlich ein Detailwissen zu diesen Ermittlungsergebnissen im persönlichen Umfeld nicht vorhanden war.

So bewahrt Herr Gröning sich „nach außen“ das Bild vom innerlich „anständigen“ SS-Mann, der nie in Auschwitz bleiben und stattdessen mutig in den wirklichen Krieg an die Front wollte und als Unterscharführer ohnehin nicht mehr beim Rampendienst hatte eingesetzt werden können.

Bevor ich zum Ende komme, muss ich über „Angst“ und deren Wandlungen sprechen.

Alle intensiven Informationen im Rahmen der Vorgespräche mit den Nebenklägern haben deren Ängste, zum Prozess nach Deutschland zu reisen, nicht vollkommen beseitigen können. Bei vielen Nebenklägern, die nicht kamen, war nicht nur Alter und Gesundheit oder Gebrechlichkeit der Grund für die Absage einer Bereitschaft zur Anreise nach Lüneburg. Jene Angst, die Irene Weiss so beschreibt, dass der Angeklagte in einer SS-Uniform auch heute noch Todesangst in ihr hätte auslösen können, war bei nicht wenigen so übermächtig, dass sie die akuten neuen Alpträume, von denen sie mir berichteten, nur durch die endgültige Absage der Reisebereitschaft beenden konnten. 

Die sehr ernst zu nehmende latente Angst begleitete die Nebenkläger auf ihrem Weg nach Lüneburg. Manche wollten anfangs keinesfalls nach Lüneburg kommen. Diejenigen aber, die genug Vertrauen aufbauen konnten und sich auf die Reise machten, haben ausnahmslos eine sehr starke und intensive Wandlung erlebt. Sie waren auf alles vorbereitet, was ihnen hier in Lüneburg begegnete. Und sie haben im Ergebnis alle für sich ein ganz neues Deutschlandbild entwickelt, unter dessen Eindruck die latente Angst verschwand oder jedenfalls sehr deutlich minimiert werden konnte.

Die Nebenkläger haben den Respekt erkannt, mit denen Ihnen begegnet wurde. Sie haben vor dem Gericht die Suche nach Gerechtigkeit im Gegensatz zu ihrer Angst vor alten deutschen Selbstgerechtigkeiten erlebt. Auch Beamte in deutschen Uniformen von Justiz und Polizei wurden von ihnen ohne jedes Zögern als diejenigen erkannt, die sie hier in diesem Prozess vor jeglichen Gefährdungen beschützen. Deutsche Öffentlichkeit – mit zuweilen spontaner Zuwendung im öffentlichen Raum - und Vertreter der Medien, der Bürgermeister der Stadt Lüneburg, sie alle haben dazu beigetragen, dass das Gericht in seiner eigenen Haltung die Zeugen nicht mehr überraschen konnte.

Das Gericht hat all die positiven Eindrücke, die die angereisten Zeugen  im Umfeld dieses Verfahrens erleben durften, in einem niemals erwarteten Umfang bestätigt und verstärkt. So wurde das Wort von der „erlösenden und heilenden Wirkung“, welches ich anfangs als optimistische Prognose verwendete, zur sachlich beschriebenen tatsächlichen Wirklichkeit dieses Prozesses für die Nebenkläger.

„Es überrascht mich und macht mich glücklich zu leben“, schrieb uns eine Nebenklägerin in einer abschließenden Beschreibung ihrer Erlebnisse in Lüneburg.

Der Dialog

Und nun möchte ich nochmals  zurückkehren zu der ergänzenden Erklärung des Angeklagten, auf die sich gewisse Hoffnungen und Erwartungen richteten.

Erinnern wir uns: Der Angeklagte hat tatsächlich erstmals zu Beginn des Prozesses von seiner Schuld mit der Eingrenzung und Relativierung einer „moralischen Schuld“ gesprochen. Das war eine Erklärung, die in zurückliegenden Prozessen noch niemals zu hören war. Grundsätzlich verdient dies Respekt, wenn er auch mit diesen Worten lediglich Erklärungen aus früheren Interviews von 2005 wiederholte.

Ich kann jedoch nicht erkennen, dass Herr Gröning jene Einschränkung seiner Schuld durch die „Moral“ aufgegeben hat und sich im umfassenden Sinne als „mitschuldig“ erklärt.

Enttäuschend ist die Tatsache, dass Herr Gröning zwar einleitend erklärt, ihm sei es ein großes Anliegen, sich nach den Aussagen der Überlebenden und Angehörigen der Opfer erneut zu äußern, jedoch nachfolgend nur abstrakt sagt, ihm sei durch die Aussagen nochmals deutlich bewusst geworden, dass die meisten Menschen vernichtet worden seien. Das wusste er vorher. Das ist nicht neu. Zu den ermordeten Familien der Zeugen sagt er jedoch ausdrücklich nichts. Und nur diese Schicksale waren ihm neu.

Statt dessen spricht er davon, dass er „keine Ahnung von den schrecklichen Zuständen während der Transporte gehabt habe“ und sagt wörtlich: „Das hat mich sehr erschrocken.“

Mit Verlaub: Hat Herr Gröning nicht all das direkt und sehr unmittelbar gesehen, was wir auf den Fotos im Auschwitzalbum sahen! „Keine Ahnung“? – 3.000 Juden in 3 Tagen und Nächten von Ungarn nach Auschwitz; immer 80-100 in einem Waggon. „Keine Ahnung“? Was für Reisende waren denn das, die da auf die Rampe geworfen wurden? – „Keine Ahnung“ von schrecklichen Zuständen während der Reise?

Gröning hatte die Chance hierzu etwas glaubwürdiger sich zu äußern.

Aber er hat es bevorzugt, seine erste Einlassung als „alten Wein in neuen Schläuchen“ zu präsentieren. Er bleibt bei den alten Behauptungen von Versetzungsgesuchen und keinem regelmäßigen Einsatz auf der Rampe während der Ungarnaktion sowie einer „faktischen“ Sperre für den Rampeneinsatz zu seinen Gunsten, was er nicht hinterfragt und lediglich dankend zur Kenntnis genommen habe.

Das überzeugt die Nebenkläger nicht im Entferntesten.

Eine Bitte um „Entschuldigung“ enthält die ergänzende Erklärung auch. Hier kann gezeigt werden, wie individuell dieses Thema zu behandeln ist. Als eine unserer Mandantinnen dieses Wort hörte und der Kontext von ihr noch nicht klar verstanden wurde, kam ein Gefühl der „positiven Überraschung“ auf. Erst durch nachträgliche Erklärung erkannte sie: Es handelt sich lediglich um eine Entschuldigung für den alten SS-Jargon von 1944 während seiner ersten Einlassung im April und nicht etwa um eine persönliche Bitte um Entschuldigung wegen seiner Tatbeteiligung. Dies wurde als Enttäuschung wahrgenommen.

Zugleich gab es andere Nebenkläger, die eine solche „Entschuldigung“ als Erklärung nicht hätten hören wollen, weil diese nicht angemessen wäre.

Das Problem wird deutlich: Grönings Erklärungen zum Umfang der eigenen Tatbeteiligung werden als mühsame Minimierung und komplizierte Geschichten jenseits der Wahrheit erkannt. Dadurch sind die Bekenntnisse in Demut und Reue eher Worthülsen, weil die offene Beschreibung der wirklichen Tatbeteiligung fehlt.

Dennoch wird deutlich: Herr Gröning hat sich jedenfalls geäußert und versucht, auf die Aussagen der Zeugen – wenn auch mit mangelnder Empathie – zu reagieren. Der Dialog ist aus sich selbst heraus noch nicht beendet.

Herr Gröning hat das Privileg des Wissens zu der Frage, was wirklich geschah, gemeinsam mit seinen Opfern und den wenigen Überlebenden. Und er kann sprechen. Noch kann er sprechen. Er hat nach wie vor die Möglichkeit und Freiheit, die unaussprechlichen Verbrechen zu beschreiben, wenn er seine eigene Traumwelt der Verharmlosung verließe, was bisher mit der wortkargen Beschreibung der Taten als „Versorgen“ der Juden in den Gaskammern noch nicht geschehen ist. Er hat in seinem „Letzten Wort“ vor Urteilsverkündung noch ausreichend Gelegenheit dazu und kann das Schweigen nochmals brechen, indem er seine eigene Seele befreit und darüber spricht, was wirklich auf der Rampe während der Ungarnaktion geschah.

Bisher hat Herr Gröning diesen wichtigen Schritt noch nicht getan.

Herr Gröning wird wegen Beihilfe zum Mord auf Grund des festgestellten Sachverhalts schuldig zu sprechen sein.

Zur Bestrafung wird sich mein Kollege Cornelius Nestler äußern.