70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz | Gedenkveranstaltung des IAK am 26.1.2015, Urania, Berlin
Rede der Auschwitz-Überlebenden Eva Fahidi
Als ich in der Morgendämmerung des 1. Juli 1944 in Auschwitz-Birkenau ankam und mich die Mitglieder des Sonderkommandos aus dem Viehwagen warfen, dachte ich nicht daran, dass es je eine demokratische Bundesrepublik geben würde – und dass gerade ich die Ehre haben würde, mich hier zu erinnern. Siebzig Jahre sind in der Zwischenzeit verlaufen.
Wenn ich mein langes Leben betrachte, worauf 75 Jahre auf das 20. Jahrhundert fallen, muss ich schmerzhaft feststellen, dass ich schon sehr früh dem Antisemitismus und dem Hass begegnet bin.
Die Geschichte unserer Ahnen, worüber wir als Kinder zu lernen beginnen, ist die chronologische Aufzählung von Kriegen, die auf dem Hass gegenüber dem Feind beruhen.
Heute kenne ich schon den tragischen Zusammenhang zwischen Hass und Angst. Hass, als Folge der Angst.
Wie soll ich meinen Nächsten und wie gar den Fremden lieben, wenn ich Angst vor ihm habe?
Als wir Kinder uns zu Hause gezankt haben, hat Mutti gesagt: „Kinder, bis zum Abend müsst ihr euch versöhnen. Mit Ärger, mit Hass in Herz und Seele, schläft man nicht ruhig.“
Wir Überlebenden von Auschwitz-Birkenau sprechen über unser Leben, wenn wir über Hass und Angst sprechen.
Es begann schon viel früher, mit der ständigen Angst um die Männer, die als Juden in den Arbeitsdienst verschleppt wurden. Kommt mein Vater, Bruder, Onkel zurück? Werde ich ihm noch je begegnen? Die angstbelasteten, unvergesslichen Momente des Abschieds!
Damals wussten wir nicht, aus welchen weiteren Gründen wir noch der Angst begegnen sollten. Im Viehwagen, auf der Reise nach Auschwitz-Birkenau, klammerten wir uns an die Hoffnung des Zusammenbleibens. „Ja“, sagte mein Vater, mit angstvoll zitternder Stimme, „wir bleiben zusammen, wir sind jung, stark und gesund, wir zusammen werden fleißig arbeiten und die kleine Zeit bis zum Kriegsende überstehen.“
Es hat keinen weiteren Tag gebraucht, dass wir auseinander gerissen, meine Mutter und meine kleine Schwester vergast und verbrannt wurden.
Schnell kam die Zeit, als wir um unser eigenes Leben Angst haben mussten. Die Lebensgefahr in jeder Sekunde in Auschwitz-Birkenau spürte man eigentlich nicht. Die Angst steckte doch in jeder Ecke und war Teil jeder Sekunde. Und der Hass ebenfalls. Wir, die Häftlinge von Auschwitz-Birkenau, wir waren verhasst. Alles, was mit uns geschah, von dem ersten Atemzug in der von brennenden Leichen stinkenden Luft, bis zum Schlaf auf dem kahlen Boden der halbfertigen Baracken, war mit Herabsetzung verbunden. Man wollte uns zur Kenntnis geben, dass wir nichts auf der Erde zu suchen hätten, dass wir vollkommen überflüssig seien, dass es nichts so sehr Verfluchtes gäbe, als unser elendes Leben, und dass es nur eine Frage der Zeit sei, dass wir so oder so umgebracht würden. Sehr jung, und mit sehr festem Selbstbewusstsein versehen musste man sein, um zu überleben.
Und doch. Im Namen fast aller Zeitzeugen kann ich sagen:
Heute hassen wir niemanden mehr!
Wir wissen, wie der Hass die menschliche Seele zerstört. Wir wollen nicht mehr hassen, wir lassen uns nicht demoralisieren, wir stehen weit darüber. Das ist unser trauriger Trost.
Wie ich gesagt habe, hassen wir, die Überlebenden, niemanden mehr. Aber Versöhnung?
Ich kann mich nur für meine eigene Person äußern, nicht im Namen meiner Toten. Meine kleine Schwester Gilike war elf Jahre alt. Ein lebenslustiges Kind in Debrecen, einer kleinen Stadt in Ost-Ungarn. Ich sehe sie zu Hause, wie sie im Garten lustig herumsaust. Sie hat genau so einen deutschen Schäferhund wie die SS. Der Hund von Gilike hieß Muki. Ich sehe Gilike bei der Ankunft nach Auschwitz-Birkenau, wie sie sich erfreut bei dem Anblick der vielen schönen gepflegten Hunde, bei den Wachmännern auf der Rampe und auf dem Weg zum Krematorium. Freundlich wollte sie einen streicheln. „Sei vorsichtig“, musste Mutti warnend sagen. „Gib acht Gilike, der ist nicht dein Muki.“
Meine Mutter war 39 Jahre alt. Ein Musterbild einer Dame. Sie kam nicht irgendwo an, sie erschien. Ich stelle sie mir in der Gaskammer vor, zusammengepresst mit vielen anderen, an der Hand Gilike. Ich sehe sie in der Sekunde, als sie wahrnimmt, dass sie jetzt ermordet werden. Was war ihr letzter Gedanke?
Und mein Vater, und die Großeltern, Cousinen, Onkel, Tanten, wollten sie nicht alle noch ein Leben haben, die Jungen nicht Väter und Mütter werden, die Alten sich nicht an ihren Enkelkindern vergnügen?
Wen haben unsere Toten beauftragt, zu verzeihen?
Wir ehemaligen Häftlinge aus Auschwitz-Birkenau sprechen über unser Leben und über das Leben unserer Toten, wenn wir über Verzeihung sprechen.
Unsere Toten kommen nicht zurück, ob wir uns versöhnen oder nicht.
In unseren Herzen dominiert der Schmerz, auch nach 70 Jahren. Uns selbst ist der Tod schon nahe und wir können immer noch den unwürdigen Tod unserer Vorgänger nicht vergessen. Die unnatürliche und unmenschliche Weise, wie es geschah.
Während sieben langen Jahrzehnten haben wir gelernt, mit unseren Traumata zu leben.
Die Zeit hilft nicht, sie vertieft nur das Mangelgefühl. Und weil es um Traumata geht, kommt man immer wieder dorthin zurück. Als ob man jemanden ermordet hätte, wie Raskolnikow bei Dostojewski in „Verbrechen und Strafe“. Die Wunde heilt nicht, sie ist immer neu, wenn man ihr begegnet. Die Frage ist nur, wie oft. Und man ist sofort wieder dort. Bei der Gebärde, bei dem kleinen Wink von Mengele: links, rechts. Als es geschah, wusste man nicht, dass alles zu Ende war. Dass man alles verlor. Die Familie, damit die gemeinsame Vergangenheit, die gemeinsame Zukunft. Die Wurzeln wurden herausgerissen, nicht einmal ein Grab ist geblieben.
Wenn wir an die Befreiung von Auschwitz-Birkenau denken, müssen wir Primo Levi benennen. Er war dort. Er hat, wie durch ein Wunder, die entsetzlichen letzten Tage an Ort und Stelle überlebt. Er beschreibt in seinem Buch „Ist das ein Mensch“, wie die SS das Lager verließ und nicht mehr funktionierte. Es gab keine Heizung bei einer Temperatur von minus 20 bis 30 Grad, es gab überhaupt keine Verpflegung, keine Versorgung, und, man kann sagen, wie immer, war auch kein ausreichendes Wasser in Auschwitz-Birkenau vorhanden. Primo Levi hat den Wassermangel im Winter erlebt. Wir, die ungarischen Juden, 1944 im Sommer.
Wir sprechen über unser Leben, wenn wir über Wassermangel in Auschwitz-Birkenau sprechen.
Es geschah nichts Besonderes. Es war einfach nur Sommer. Es waren die siebenundfünfzig Tage der Deportation der jüdischen Ungarn nach Auschwitz-Birkenau. Den ungarischen Behörden war es sehr dringend gewesen, uns los zu werden, trotz Kriegswirtschaft fand man schnell die nötigen 147 Züge, im Durchschnitt mit 3000 Personen je Zug. Das Tempo der Deportation war für das Lager zu geschwind. Nichts war vorbereitet. Wir, die auf der Rampe zum Leben verurteilt wurden, mussten deswegen noch mehr Herabsetzung und Misshandlung erleiden.
Man muss auch über die Latrinen sprechen. Es mangelte an Latrinen. Stattdessen gab es den Kübel, der letztens in die Latrine zu schütten war. Er durfte nicht umkippen, nicht überschwappen. Der Kübel wusste es nicht, er schwappte, kippte um, auf unsere Hände, Füße, auf die Fetzen, die wir anstelle von Kleidern trugen. Es gab keine Seife, kein Handtuch, und, wie gesagt, kein Wasser. Es gab nur die Demütigung und die Schande.
Wir haben überlebt, es muss darüber gesprochen werden.
Wasser gab es keines, aber dort war der Sumpf!
Wir Überlebenden von Auschwitz-Birkenau sprechen über unser Leben und über unsere Toten, wenn wir über den Sumpf sprechen.
Der eine Tatort des ungarischen Holocaust in Auschwitz-Birkenau war das Frauenlager BII.b, an einem Ufer des Sumpfes. Wir, die dort im Staub auf dem Boden saßen und Brandflecke von der Sonne erhielten, mussten manches erlernen:
- Vorerst, dass der Sumpf kein Trinkwasser war, auch wenn der Mund vollkommen ausgetrocknet war, die Zunge am Gaumen festklebte, und man nicht wusste, wie man die nächste Sekunde überlebte.
- Nicht einmal Hände und Gesicht durfte man sich im Sumpf waschen.
- Man musste sogar allen Kontakt mit ihm vermeiden.
Weil der Sumpf verseucht war.
Er war nur da, um unsere Qualen zu verstärken und um am anderen Ufer die Asche unserer Geliebten, die Tag und Nacht, ununterbrochen, aus vollen Lastwagen in den Sumpf geschüttet wurde, zu verschlingen.
Der Sumpf ist schon längst trocken gelegt worden.
Die Asche all derer jedoch, die in den Gaskammern ungezählt ermordet und in den Krematorien verbrannt wurden, ist dort geblieben.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Am 12. August 1944 wurden im Lager BII.b 1000 Frauen selektiert, um in dem Rüstungswerk Dynamit A.G., versteckt im Herrenwald von Allendorf, Sklavenarbeit zu leisten. Wir wurden fotografiert, man sieht uns im Auschwitz-Album, als wir am nächsten Tag, am 13. August 1944, in Waggons nach Allendorf verladen werden. Ich war 19 Jahre alt.
Ein Mensch hält mehr aus als ein Pferd. Ein Pferd trinkt aus keinem Eimer, der nach Chemikalien stinkt oder verschmutzt ist. Ich weiß es, weil ich zwischen vielen Pferden, die mein Großvater gezüchtet hat, aufgewachsen bin.
Wir tausend Frauen im Rüstungswerk haben keine Wahl gehabt. Mit Trinitrotoluol und Salpeter sind wir ohne Schutzmittel umgegangen, als wären sie Zucker und Mehl. Unser Glück war die Befreiung durch die Alliierten am 1. April 1945.
Es war 1989, das Jahr des ungarischen Aufbruchs, als in sämtlichen ungarischen Zeitungen ein Aufruf erschien: „Der Magistrat von Stadtallendorf sucht die ehemaligen Häftlinge der Münchmühle.“ Zweimal musste ich es lesen, um einmal zu begreifen: Ich werde gesucht, Gott im Himmel, was will man noch von mir nach 44 Jahren? Es stellte sich heraus, dass man mich und meine 999 Lagerschwestern einladen wollte. Um Verzeihung bitten, uns ein wenig verhätscheln wollte. Es war wie eine hingereichte Hand, man konnte kein Nein sagen.
Auch weitere Überraschungen folgten. Die Zahl der Einwohner, als wir Mitte Oktober 1945 Allendorf verließen, war 1500. Als wir 1990 wieder dort waren, war aus Stadtallendorf eine richtige Stadt geworden. Man hat uns auf Deutsch freundlich angesprochen, zu unserem ehemaligen Lager geführt, uns in unserem ehemaligen Rüstungswerk die Stellen gezeigt, wo wir gearbeitet hatten. Es war nicht das Deutschland, das wir verlassen hatten. Es war nach der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ein anderes Deutschland, worüber wir im sozialistischen Ungarn nichts gehört und gewusst hatten.
Seitdem bin ich mehrere Male auch nach Auschwitz-Birkenau zurückgekehrt, mit dem Schuldgefühl, das alle Überlebenden belastet:
Warum gerade ich??? Warum bin gerade ich am Leben geblieben???
Im Laufe der siebzig Jahre habe ich die Antwort gefunden:
Weil ich eine Zeugin bin, weil ich mir alles, was geschah, gut gemerkt habe, weil ich die Erinnerung an meine Erlebnisse der ganzen Welt übergeben muss.
Nach einem Schweigen von fast sechzig Jahren ist es mein Lebensziel geworden, die Erinnerung an Auschwitz-Birkenau nicht auslöschen zu lassen. Für die Zeit, die noch übrig bleibt, ist es eine würdige Aufgabe.
Die Asche der Ungezählten im ehemaligen Sumpf von Auschwitz-Birkenau, darunter die Asche von neunundvierzig Mitgliedern meiner Großfamilie, die meiner Mutter Irma und meiner kleinen Schwester Gilike, diese Asche verpflichtet. Die Asche hat mir und meinen überlebenden Lagerschwestern und Lagerbrüdern die Verantwortung übertragen, die Erinnerung an die Toten zu bewahren.
All denen, die im Sumpf von Auschwitz-Birkenau ruhen, den Juden, den Sinti und Roma, den Polen, den Russen, den Frauen und Männern des Widerstandes aus allen Ländern Europas, allen, die kein würdiges Begräbnis hatten, die nicht von weinenden Familienmitgliedern zum Grab begleitet wurden, weil es kein Grab gibt, ihnen sei hier das letzte Wort gesprochen:
Heute, nach siebzig Jahren, wendet sich die ganze Welt mit Scham und Mitleid zu Euch!
ÁLÁV HASHALÓM
NYUGODJATOK BÉKÉBEN
REQUIESCATE IN PACEM
RUHET BEHÜTET UND IN FRIEDEN BIS ZUR EWIGKEIT !