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Zwei Leben. Auschwitz und danach.

Überlebensgroß: Auschwitz-Überlebende treffen auf deutsche und polnische Azubis

Eine Rezension der Ausstellung des Internationalen Auschwitz Komitees in Kooperation mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim/Auschwitz.

Von Dr. Dennis Riffel


Überlebensgroß. Das Wort ist sofort in meinem Kopf, als ich den Ausstellungsraum betrete. Es passt zu der Fotomontage, die die gesamte Stirnseite des Ausstellungsraumes einnimmt. Ich sehe das Bild einer älteren Frau. Ich muss zu ihr aufblicken, denn sie überragt mich. Sie steht in der Bildmitte, auf einer Bühne. Die Gleise um sie herum sind Kulisse. Jetzt wirkt das Foto wie auf einen Theatervorhang gedruckt.


Vor, in und nach Auschwitz

„Überlebensgroß“ passt nicht nur zum Foto, sondern zur gesamten Ausstellung „Zwei Leben. Auschwitz und danach“, die noch bis zum 23. Juni 2019 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zu sehen ist. Denn es geht um zwei Frauen, die das Vernichtungslager Auschwitz überlebt haben, bis jetzt. Die nach dem Überleben groß geworden sind im Sinne von über sich hinauswachsen, sich künstlerisch verwirklichen. Und die auch mit über 90 Jahren noch Neues wagen.


Ein Lebensthema

Die Frau auf der Bühne ist Zofia Posmysz. 1923 in Krakau geboren. Sie wird 1942 verhaftet, als sie gemeinsam mit Klassenkameraden Flugblätter verteilt. Nach wochenlangen Verhören in das Hauptlager Auschwitz verschleppt, muss sie Zwangsarbeit in einer Strafkompanie leisten, dann kommt sie ins Frauenlager nach Auschwitz- Birkenau. Später arbeitet sie in der Lagerküche und als „Schreiberin“. Gegen Kriegsende kommt sie in das KZ Ravensbrück, erlebt die Befreiung durch alliierte Truppen im Außenlager Neustadt-Glewe. Zu Fuß gelangt Zofia Posmysz zurück nach Krakau. Sie macht das Abitur, studiert in Warschau Polonistik und wird Literaturredakteurin des Polnischen Radios. 1959 verarbeitet sie ihre Lagererfahrungen im Hörspiel „Die Passagierin aus der Kabine 45“. Aus dem Hörspiel wird der Film „Die Passagierin“ von Andrzej Munk und die gleichnamige Oper von Mieczyslaw Weinberg.


Schreiben und sprechen nach 49 Jahren

Anders als Zofia Posmysz hat die zweite Überlebende lange Zeit über Auschwitz nichts geschrieben, nicht einmal etwas erzählt. Éva Fahidi, 1925 in Debrecen geboren, ungarische Jüdin, wird 1944 mit ihrer Familie in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Sie überlebt Auschwitz, Zwangsarbeit in Deutschland, das KZ Buchenwald und einen Todesmarsch. Sie kehrt nach Ungarn zurück, von ihrer fast 50köpfigen Großfamilie hat nur sie überlebt. Sie macht als Außenhandelsbeauftragte eines ungarischen Stahlkombinats Karriere. Nach 1989 kann sie ein eigenes Unternehmen gründen. Erst 2004 bricht sie ihr Schweigen und schreibt ihre Erlebnisse nieder – zunächst auf Deutsch. Dann entschließt sie sich, einen noch umfassenderen Bericht auf Ungarisch zu verfassen, er erscheint als Buch 2005, in Deutschland 2011 unter dem Titel „Die Seele der Dinge“. Inzwischen wurde sie zu einer, wie sie es nennt, „Holocaust-Aktivistin“. Ein zweites Buch von ihr ist gerade auf Ungarisch erschienen.


Tänzerin werden mit 90

Und sie hat sich mit über 90 einen Jugendtraum erfüllt: Tänzerin werden. Seit 2015 nimmt sie am offenen Tanztraining des Budapester Tanztheaters „The Symptoms“ teil. Die Direktorin dieses Theaters schlägt ihr im Mai 2015 vor, mit einer jungen Frau, Emese Cuhorka, zu sprechen und zu tanzen. Daraus entsteht das Bühnenstück „Strandflieder oder die Euphorie des Seins“, das bis jetzt 75 Mal in Budapest, Wien und anderen Städten aufgeführt wurde.

Éva Fahidi steht Zofia Posmysz in der Ausstellung nicht einfach gegenüber. Ein großes Foto von ihr und ihrer Tanzpartnerin hängt frei auf der anderen Seite des Raumes. Auf der Wand  dahinter ist ein lila Blütenmeer zu sehen: Strandflieder in der Puszta, den Éva Fahidi in ihrer Kindheit und Jugend bei siebzehn Besuchen gesehen hat und dann nie wieder. Es ist wieder eine Fotomontage, aus der blühenden Puszta erhebt sich die Silhouette des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.


Angesprochen

Neben den eindrucksvollen Fotos lebt die Ausstellung von den Erzählungen der beiden Frauen, die oft direkt zu den Besucherinnen und Besuchern zu sprechen scheinen, z.B. Éva Fahidi, als sie ihre Ankunft in Auschwitz schildert: „Wir haben vor Mengele gestanden bei der Selektion. Mengele hat mich und meine Kusine gesehen und uns gefragt: Seid ihr Zwillinge? Schön höflich und freundlich, so hat er gefragt. Wir haben gesagt ‚nein‘ und so hat er bei mir die Reihe abgeschnitten, ich bin auf die eine und alle anderen auf die andere Seite.“

Oder Zofia Posmysz über ihren Überlebenswillen: „Im Lager war nur eines wichtig – wie überlebe ich die nächste Stunde, dann die ganze Woche, den nächsten Monat – das waren die Anhaltspunkte, die Ziele. Und als das Ende immer näher rückte und wir von Auschwitz nach Ravensbrück verbracht wurden, war das Allerwichtigste, zu den Angehörigen zurückzukehren, obwohl viele von uns keine Familie mehr hatten.“


Ein Projekt mit Azubis

Auch die Auszubildenden der VW AG, die mit den beiden Frauen gesprochen und sie interviewt haben, berichten über ihre Erfahrungen mit dem Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz und über ihre Erlebnisse mit den Zeitzeuginnen.
So sagt die achtzehnjährige Melissa Trockmann über Zofia Posmysz: „Das Leid und die Schmerzen, die diese Frau ertragen musste, sind für mich unvorstellbar. Und dennoch sitzt sie vor unserer Gruppe und strahlt Würde und Lebensfreude aus: Eine unglaublich starke Frau, ganz zart, so stark!“

Die Begegnung von deutschen und polnischen Azubis mit Auschwitz-Überlebenden hat Tradition. Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, begleitet und organisiert schon seit Jahren gemeinsam mit Ines Doberanzke-Milnikel von Volkswagen Coaching deutsch-polnische Begegnungsfahrten nach Auschwitz. Die Gespräche mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind die Höhepunkte dieser Fahrten. Auch in die Ausstellung „“Zwei Leben. Auschwitz und danach“ flossen diese Reise- und Gesprächserfahrungen mit ein.


Dr. Dennis Riffel ist Leiter des Fachbereichs Geschichte und Erinnerung von Gegen Vergessen – für Demokratie e.V.