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Angela Orosz-Richt (Ausschwitz-Überlebende, geboren Dezember 1944 in Auschwitz-Birkenau) / Foto: Eva Oertwig/IAK
Angela Orosz-Richt (Ausschwitz-Überlebende, geboren Dezember 1944 in Auschwitz-Birkenau) / Foto: Eva Oertwig/IAK 
 

75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz

In Auschwitz geboren: Angela Orosz-Richt mahnte bei der zentralen Gedenkveranstaltung des IAK, die Demokratie zu schützen und entschieden gegen Antisemitismus vorzugehen

Um den 21. Dezember 1944 wurde Angela Orosz-Richt in die Welt von Auschwitz hineingeboren. Das Schicksal der Kinder, die im Lager geboren wurden, war das zentrale Thema der Gedenkveranstaltung des Internationalen Auschwitz Komitees zum 75. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz-Birkenau im Berliner Hotel Maritim, die am 23. Januar 2020 unter großer Beteiligung der Öffentlichkeit stattfand. Gewidmet war die Veranstaltung den Stimmen der Überlebenden und der aktuellen Auseinandersetzung mit Antisemitismus und rechtsextremem Hass.

 

Die Rede von Angela Orosz-Richt im Wortlaut

"Diese Experimente sind der Grund dafür, dass ich keine Brüder oder Schwestern habe."

Danke, dass Sie mich eingeladen haben Sie heute zu treffen, danke für die Gelegenheit über das Heldentum meiner Mutter zu sprechen.

Meine Mutter sagte immer, dass ich zwei Geburtstage habe: Einer ist im Dezember, aber mein wirklicher Geburtstag ist der 27. Januar. Denn wäre Auschwitz nicht befreit worden, hätten sie und ich nicht überlebt. Ich bin hier um die Geschichte meiner Mutter zu erzählen, nicht meine eigene.

Ich möchte sichergehen, dass sie nicht in Vergessenheit gerät, dass ihr Kampf, mein Leben zu retten nicht in Vergessenheit gerät und ebenso nicht ihre Entschlossenheit, ihre Liebe, ihre Beharrlichkeit, ihre positive Lebenseinstellung. Obwohl sie mich im schlimmsten vorstellbaren Alptraum geboren hat, gab sie nie auf. Ihre Stärke, trotz des Hungers, der Angst vor dem Tod, war unbeschreiblich. Ihr Geist blieb klar.

Mein Name ist Angela Orosz Richt, aber ich werde euch Veras Geschichte erzählen. Vera war meine Mutter.

Sie brachte mich in Auschwitz-Birkenau zur Welt. Ich bin einer der jüngsten Überlebenden dieses Vernichtungslagers. Ich wurde dort im Dezember 1944 geboren, mit einem Gewicht von nur einem Kilogramm. Meine Mutter wurde 1919 in Budapest geboren. Sie kam aus einer sehr gebildeten Familie. Ihr Vater war Architekt in Budapest, ihre Mutter sprach viele Sprachen, war Kunstliebhaberin, eine Liebhaberin klassischer Musik. Ihre Kinder wurden von französischsprachigen Kindermädchen erzogen und besuchten die besten Schulen. Meine Mutter hatte zwei Geschwister. Als meine Mutter ihr Gymnasium in Budapest beendete, erlaubte das Gesetz den Juden nicht, die Universität zu besuchen. Vera bewarb sich um eine Stelle als Kindermädchen und zog in eine kleine Stadt, Sarospatak in Ostungarn.

Sarospatak war eine kleine Stadt mit vielen berühmten historischen Persönlichkeiten, wie Comenius, der dort lehrte. Er gilt als der Vater der modernen Erziehung. Im Jahre 1943 war es ein kulturelles Zentrum. Dort begegnete sie meinem Vater, Dr. Tibor Bein, ein Rechtsanwalt. 1943 haben sie geheiratet.

Wie jedes junge Paar verbrachten sie ihr Leben im Glück, sie hatten Freunde, sie spielten Karten und sahen die Wolken nicht kommen. Am 19. März 1944 änderte sich alles. Deutschland fiel in Ungarn ein.

Am Morgen nach dem Pessachfest im April desselben Jahres gab es ein Klopfen an der Tür. Es waren die Gendarmen, die örtlichen ungarischen Milizen, die schlimmer waren als die Polizei, sagte meine Mutter. Meine Eltern wurden aus ihrem Haus in Sarospatak vertrieben und in einen Viehwaggon getrieben. Sie wurden in das Ghetto im benachbarten Satoraljaujhely gebracht.

Weil es der Tag nach Pessach war, hatten sie nicht einmal Brot, das sie auf die Reise mitnehmen konnten. Von Mitte April bis zum 22. Mai verbrachten sie ihre letzten gemeinsamen Tage in diesem überfüllten Ghetto. Dann wurden sie wieder auf einen Viehwaggon gezwungen, auf eine Reise die drei Tage dauerte. Am 25. Mai kamen sie in Auschwitz-Birkenau an.

Damals war ich im Bauch meiner Mutter. Sie und mein Vater wurden von SS-Männern mit Peitschen und Maschinengewehren geschlagen und getrieben, unter den Rufen "Alle raus!". "Schnell!" "Lassen Sie Ihr Gepäck im Zug."

Es gab SS-Männer, die in Wachtürmen mit Maschinengewehren und Scheinwerfern standen und das schreckliche Chaos beobachteten. Von dort oben wirkte der Wahnsinn vielleicht geordnet, aber unten auf der Plattform war er es nicht. Bis zu ihrem Tod hatte meine Mutter Angst vor bellenden Schäferhunden.

Jeder, der nach Auschwitz kam, stand in dieser Schlange, bis sie sich bei dem berüchtigten Dr. Mengele spaltete. Nach links wurden Frauen geschickt, die Anzeichen einer Schwangerschaft zeigten, Kinder unter 15 Jahren, alte und gebrechliche Menschen, die an diesem Tag ermordet werden sollten. Man sagte ihnen: "Hängt eure Kleider auf, ihr werdet duschen." Und sie glaubten es. Diese Juden wurden nicht geduscht. Sie wurden vergast.

Meine Mutter wurde nach rechts geschickt, was eine vorübergehende Begnadigung vom Tod bedeutete. Als sie an der Reihe war und vor Mengele stand, erzählte meine Mutter ihm, dass sie schwanger war, in der Hoffnung, dass er Mitleid haben würde und sie bei ihrer Freundin bleiben lassen würde. Von meinem Vater war sie bereits getrennt worden. Sie würde ihn nie wieder sehen.

Mengele schnappte "Du dumme Gans" und befahl sie nach rechts. Sie war „gutes Material“, gesund und stark genug für die Zwangsarbeit. Das gleiche galt für meinen Vater, aber er überlebte die unmenschlichen Bedingungen nicht und starb im Lager an Erschöpfung. Nein, das ist nicht richtig. Lassen Sie es mich anders sagen: Er wurde durch Erschöpfung ermordet.

Meine Mutter hat einmal in einem Interview mit ihrer Enkelin für ein Schulprojekt beschrieben, was dann geschah. Ich lese Ihnen ihre Worte vor: "Nach meiner Ankunft im Arbeitslager wurde ich tätowiert. Von diesem Moment an war ich nicht mehr Vera, sondern A 6075, völlig rasiert, mit einer Uniform und Holzschuhen versehen. Die rasierten Köpfe, die Tätowierungen, das waren Symbole unserer Entmenschlichung, unsere ganze Würde wurde uns genommen, wir galten nicht mehr als Menschen."

Meine Mutter wurde mit der Nachtschicht im Lagerhaus in Lager A beauftragt, in dem sich die persönlichen Gegenstände der Opfer befanden. Dort war es die Aufgabe meiner Mutter, alles was Wert hatte herauszusuchen, das die jüdischen Opfer von zu Hause mitgebracht hatten. Sie musste alles sortieren und in Haufen trennen: Schuhe, Wäsche, Kleidung. Wenn die Häftlinge nicht oder zu langsam arbeiteten, wurden sie geschlagen. Die SS nahm die beste Kleidung mit, um sie zu desinfizieren und an die deutsche Bevölkerung zu verteilen.

Als sie im fünften Monat schwanger war, wurde meine Mutter in die Baracke 2 verlegt, wo sie einem Außenkommando zugeteilt wurde, das außerhalb des Lagers arbeitete. Dort verrichtete sie schwere körperliche Arbeit, baute Straßen und arbeitete auf den Feldern.

Sie erzählte mir später: "Wenn wir auf den Feldern Pflanzen fanden, Viehnahrung, die nicht einmal für den menschlichen Verzehr bestimmt war, gab es ein Fest unter uns. Es war, als hätten wir einen Schatz gefunden. Wie eine Sachertorte. Wir teilten es. Wir haben es gegessen." Sie aßen Tierfutter und feierten.

Später wurde meine Mutter zum Küchendienst eingeteilt. Dort schaffte sie es, einige Kartoffelschalen zu schnorren, der einzige Grund, warum ich, wie sie sagte, in ihrem Bauch am Leben bleiben konnte, waren die lebenswichtigen Vitamine in den Kartoffelschalen.

Der Rest ihrer täglichen Nahrung bestand aus Ersatzkaffee am Morgen, der aus Wasser und verbranntem Weizen hergestellt wurde, der morgens und abends verabreicht wurde. Später fanden wir heraus, dass er mit einer Chemikalie namens Bromodin versetzt war, damit die Frauen ihre Periode nicht hatten und die Häftlinge ruhiggestellt sind. Zum Mittagessen gab es warme Suppe aus Gras oder aus verfaultem Gemüse und eine sehr kleine Scheibe Schwarzbrot. Einmal fand meine Mutter einen Knochen in ihrer Suppe. Sie war so glücklich, diesen kleinen Knochen zu haben, bis ein SS-Mann ihn sah und ihr ans Bein unterhalb des Knies trat. Sie verbrachte ihr Leben mit einem humpelnden und geschwärzten rechten Bein, wegen des Knochens, den sie in ihrer Suppe fand.

In Birkenau waren die Kojen der Häftlinge dreckiges Stroh auf Brettern, drei Etagen hoch, sechs Personen auf einer. Wenn einer sich umdrehen musste, mussten sich alle umdrehen, denn sie waren wie Sardinen in einer Dose. Die untere Etage war die bequemste, in der mittleren Koje bekam man keine Luft, und die obere wurde von Wind, Regen oder Schnee getroffen.

Einmal, als meine Mutter wegen ihrer Schwangerschaft die sehr schwere körperliche Arbeit nicht mehr verrichten konnte, ging sie zur Blockältesten und sagte ihr: "Ich bin schwanger." Nach den Regeln von Auschwitz bedeutete dieses Geständnis, dass sie sofort in die Gaskammer geschickt werden würde.

Stattdessen wurde sie in eine Baracke im Lager C geschickt. Dort kümmerte sie sich um Kinder, vor allem um die Zwillinge, die von Mengele und seinen Kollegen, die sich Ärzte nannten, für medizinische Experimente missbraucht wurden.

Später wurde meine Mutter ein menschliches Versuchskaninchen für das Team von Mengele. Im Oktober, als sie im siebten Monat schwanger war, wählte das Team von Professor Carl Clauberg sie für Sterilisationsexperimente aus. Sie injizierten ihr eine brennende Substanz in den Gebärmutterhals. Direkt dahinter, in ihrer Gebärmutter, war der Fötus. Und zwar ich. Diese Injektionen waren schrecklich, schmerzhaft. Bei der ersten Injektion bewegte sich der Fötus auf die linke Seite.... Am nächsten Tag eine weitere Injektion, und der Fötus bewegte sich in die andere Richtung. Sie spielten dieses Spiel eine Zeit lang.

Diese Experimente sind der Grund dafür, dass ich keine Brüder oder Schwestern habe.

Irgendwie habe ich überlebt. Nachdem sie die Auswirkungen der Injektion von ätzenden Chemikalien in den Gebärmutterhals meiner Mutter beobachtet hatten, ging meine Mutter zurück in ihre Baracke und wurde glücklicherweise vom Todesengel vergessen. Weil sie so wenig gefüttert wurde, war ich so winzig, dass die Schwangerschaft nicht sichtbar war. Wäre das nicht der Fall gewesen wären wir beide ermordet worden, bevor ich überhaupt meinen ersten Atemzug getan hatte.

Als meine Mutter im 8. Monat schwanger war, kam eines Nachts eine ungarische Ärztin – möglicherweise Gisella Perl, die unter Mengele arbeitete und von der Schwangerschaft meiner Mutter wusste – in die Baracke und bot meiner Mutter eine Abtreibung an. Sie sagte ihr: "Wenn du entbindest, wissen wir nicht, wie Mengele reagieren wird. Wenn er gute Laune hat, wird nur dein Kind sterben. Aber wenn Mengele schlecht gelaunt ist, kommt ihr beide in die Gaskammer. Du bist so jung, du könntest dein Leben retten."

Meine Mutter versprach, sie würde darüber nachdenken und ihr am nächsten Tag eine Antwort geben. In dieser Nacht sah sie im Traum ihre Mutter, die sie anflehte: "Veruska, der Fötus ist schon ein Kind, fast bereit herauszukommen, vertrau auf G-tt, und dir wird geholfen werden. Lass die Abtreibung nicht machen." Am nächsten Tag gab sie dem Arzt ihre Antwort, ein definitives Nein.

Zu diesem Zeitpunkt hatte eine andere Frau entbunden und Mengele band ihr die Brüste zusammen, um zu sehen, wie lange das Baby leben würde, ohne gefüttert zu werden. Kurz darauf wurden Mutter und Kind ermordet.

Meine Mutter war sich nicht sicher, wann ich geboren wurde. Sie wusste nur, dass es drei Tage vor der Weihnachtsfeier der SS war. Wenn sie also am 24. feierten, dann war mein Geburtstag am 21. Dezember, und wenn sie am 25. feierten, dann wurde ich am 22. 1944 geboren.

Am Tag meiner Geburt erzählte meine Mutter ihrer Blockältesten, die ein Häftling aus der Tschechoslowakei war, dass sie in den Wehen lag. Da ihr Vater Arzt war, wusste die Blockälteste ein wenig was zu tun war. Irgendwie schaffte sie es, ein Laken, etwas heißes Wasser und eine Schere zu bekommen. Sie sagte meiner Mutter, sie solle nach oben in die obere Koje gehen. Sie ging meiner Mutter nach und half ihr bei der Geburt.

So bin ich auf die Welt gekommen. In einer Baracke voller Kinder, von denen keines wusste dass ich gerade geboren wurde. Ich war so unterernährt, dass ich ein Kilo wog und nicht weinen konnte. Das war der Grund, warum ich überlebte.

Drei Stunden nach der Entbindung musste meine Mutter mich allein in der Koje lassen und zum Appell nach draußen gehen. Bis heute bin ich erstaunt, dass meine Mutter das geschafft hat. Was für ein Mut, was für eine unglaubliche Kraft, das tun zu können. Es war Dezember, es war eiskalt und sie hatte nur Lumpen als Kleidung. Meine Mutter musste lange Zeit in Appell stehen. Die Holzschuhe, die die Häftlinge trugen, waren wegen Schnee und Eis gefährlich. Wenn sie fiel, wurde sie erschossen. Sie zitterte, keine richtige Kleidung, keine richtigen Schuhe, aber eines brannte in ihr: Ich habe eine Tochter, ich muss sie retten!  

Die ganze Zeit hat sie gebetet, dass ich noch am Leben bin, wenn sie in die Baracke zurückkehrt. Stellen Sie sich den Stress vor!
 
Eines Tages, nicht lange danach, einige Tage vor der Befreiung, hörte meine Mutter die Leute schreien: "Schnell! Schnell!" Die deutschen Wachen trieben die überlebenden Häftlinge wie meine Mutter in einen Tunnel unter dem Lager und sagten ihnen, dass sie darin gesprengt werden würden. Dies geschah nicht, aber bis zu ihren letzten Tagen behielt meine Mutter eine tödliche Angst vor Tunneln. In Toronto, viele Jahrzehnte später, hatte sie eine Panikattacke, weil eine U-Bahn, mit der sie fuhr, zehn Minuten lang in einem Tunnel stecken blieb.

Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz befreit. An diesem Tag wurde ein weiteres Kind geboren. Sein Name war György Faludi. Györgys Mutter hatte nicht genug Milch, um ihren Sohn zu stillen, also hat meine Mutter uns beide gefüttert. Dies war der Beginn einer langen Freundschaft zwischen diesen beiden Müttern.

In diesem Wahnsinn geschahen viele Wunder. Meine Mutter war am Verhungern und hatte doch Milch, um mich zu stillen, und nach der Befreiung sogar das Kind einer anderen Frau. Von dem Essen, das man ihr gab, hatte sie vielleicht 300-400 Kalorien. Wie konnte sie Milch bekommen? Durch ein Wunder. Aber ich bin nicht hier, um über Wunder zu sprechen.

Meine Mutter konnte erst im November 1945 mit mir nach Ungarn zurückkehren. Über Kattowitz und andere polnische Städte, mit einem langen Aufenthalt im von Russen geführten DP-Lager Slutsk, kehrte meine Mutter schließlich nach Budapest zurück, um einen Arzt zu suchen, der uns helfen konnte. Ich war ein sehr krankes Baby.

Im November 1945, als ich fast ein Jahr alt war, wog ich nur 3 kg. Jedes normale Baby wird mit 3 kg geboren. Meine Mutter ging von Arzt zu Arzt, aber keiner von ihnen hatte irgendeine Hoffnung, dass sie helfen könnten oder dass ich zu einem gesunden Kind heranwachsen würde. Meine Mutter war die einzige, die davon überzeugt war, dass ich leben würde. Die Leute nannten sie immer eine verrückte Frau.

Sie dachten, sie hätte in Auschwitz ihren Verstand verloren und ich sei eine Puppe, weil ich mich nicht bewegen konnte. Ich sah nicht wie ein menschliches Baby aus. Ich sah aus wie eine Stoffpuppe. Sogar meine Großmutter (die versteckt in Budapest überlebt hatte) -ihre eigene Mutter- flehte sie an, auf die Ärzte zu hören und das Baby sterben zu lassen. Sie wird nie ein normales Kind sein, sagten sie alle. Aber meine Mutter war entschlossen, mich zu retten.

Ein Arzt hielt mich kopfüber wie ein Huhn und sagte, wenn ich den Kopf heben würde, hätte ich eine Chance zu überleben und er würde helfen. Das tat ich auch! Danach kümmerte er sich mehrere Jahre um mich, bis meine Knochen stark genug waren, um weiter zu laufen. Nach der Rückkehr nach Budapest blieben wir noch eine Weile im Haus meiner Großmutter, meine Mutter suchte verzweifelt nach meinem Vater, aber keine Antwort. Sie beschloss, dass wir - wenn wir stärker geworden sind, nach Sarospatak zurück gehen würden, um dort auf die Rückkehr meines Vaters zu warten.

Später, als sie merkte, dass er ermordet worden war, heiratete sie meinen Stiefvater, der seine Tochter und seine Frau in Auschwitz verloren hatte. Mein Stiefvater hat mich adoptiert. Damals war ich noch ein sehr junges Baby.

Heute würde man sagen, ich sei lernbehindert gewesen. 1972 präsentierte Dr. Jean Jofen auf dem Fünften Weltkongress für Jüdische Studien einen Vortrag mit dem Titel "Fernwirkungen medizinischer Experimente in Konzentrationslagern": "Die Wirkung der Östrogengabe an die Mutter auf die Intelligenz des Nachwuchses". Jofen berichtete, dass das Auschwitz-Kontingent, nachdem es Hunderte von Kindern von Holocaust-Überlebenden getestet hatte, den niedrigsten IQ-Bereich hatte. Dr. Jofen postulierte, dass die synthetischen Hormonexperimente verantwortlich waren.

Ich bin in einer schönen Ehe aufgewachsen. Sie liebten einander, sie schätzten es, am Leben zu sein, konzentrierten all ihre Anstrengungen darauf, ihr zerbrochenes Leben wieder aufzubauen und versuchten, die Schrecken, die sie erlebten, in den Hintergrund zu drängen. Meine Mutter liebte mich mit einer Intensität mehr als normal, und mein Stiefvater auch, wahrscheinlich weil er in mir seine geliebte, ermordete Tochter sah.

Ich war der glückliche Empfänger all dieser Liebe und dieses Schutzes. Die Zimmer in unserem Haus waren mit Bildern von Verwandten geschmückt, die in Auschwitz umgekommen waren, und als ich fragte, wer sind sie? War die Antwort: gestorben, gestorben, gestorben. Sie benutzten absichtlich nicht das Wort "ermordet", um ein kleines Kind nicht zu erschrecken. Wir hatten keine Verwandten außer meiner Großmutter mütterlicherseits, bis ich 6 Jahre alt war.

Heute bin ich selbst Großmutter, sogar Urgroßmutter von einigen Kindern. Ich fühle mich für ihre Zukunft verantwortlich, wie Roman Kent einmal sagte:  "Wir wollen nicht, dass unsere Vergangenheit die Zukunft unserer Kinder ist."

Der Holocaust muss gelehrt werden, man muss sich an den Holocaust erinnern und daraus lernen.
Ich erzähle die Geschichte meiner Mutter, damit sie nicht vergessen wird.  

Meine Mutter hat nie mit jemandem über diese Gräuel gesprochen. Eine innere Stimme sagte ihr, dass niemand diese Erfahrungen verstehen könne, außer denen, die sie erlebt haben. Es ist sinnlos, darüber zu reden, nicht einmal ich würde sie für wahr halten...

Als Überlebende sagte Esther Bauer: „Die ersten 20 Jahre konnten wir nicht darüber reden, die nächsten 20 Jahre wollte niemand davon hören, erst in den nächsten 20 Jahren begannen die Menschen, Fragen zu stellen.“

Elie Wiesel schrieb einmal: "Es gibt viel zu tun, es gibt viel, was man tun kann. Eine Person, ... eine Person von Integrität, kann einen Unterschied machen, einen Unterschied von Leben und Tod."

Ich möchte auf meine kleine Art und Weise etwas bewirken.

Meine eigenen Kinder haben immer mit den Augen gerollt, wenn ich ihnen gesagt habe, dass der Holocaust wieder passieren könnte. Aber heute bin ich mehr als früher davon überzeugt, dass er sich wiederholen kann.

Und warum ist das so? Weil die Welt die Lehren aus der Shoah nicht gezogen hat. Einige Menschen haben es, aber bei weitem nicht alle. Seit 1945 haben wir mehr Völkermorde gesehen.

Menschen wurden zu Tausenden, Hunderttausenden ermordet! In Ruanda. In Srebrenica. In Syrien. An so vielen anderen Orten. Und der Antisemitismus, die älteste Form des Rassenhasses, Tausende von Jahren alt, ist immer noch lebendig. Es gibt immer noch Menschen, die glauben, dass alle Juden reich sind. Dass die Juden zu einflussreich sind. Dass Juden Hollywood, die Medien oder die Wall Street leiten. Das Internet ist voll von diesem Müll. Es verbreitet sich wie Buschfeuer, es bleibt weitgehend unkontrolliert.

Als Juden hassen wir Deutschland nicht, wir hassen überhaupt nicht, ungeachtet dessen, was uns angetan wurde.

Aber wir machen uns Sorgen, wenn wir sehen, wie dieser alte Hass gegen uns in den Straßen Berlins, in den Straßen Dresdens wieder auftaucht. Wir schütteln ungläubig den Kopf, wir bekommen Angst, wirklich Angst. Ich muss gestehen, dass ich in den letzten Wochen etwas nervös war. Ich habe in den Zeitungen so viel darüber gelesen, dass der Antisemitismus in Deutschland und in Europa wieder zunimmt.

Und es passiert nicht nur hier, sondern auch in den Vereinigten Staaten, in Montreal, wo ich lebe, überall auf der Welt. Es ist nicht nur der alte Antisemitismus, den wir kennen, es ist auch eine neue Art von Antisemitismus. Wenn man heute etwas gegen die Juden sagen will und damit durchkommen will, dann sagt man etwas Empörendes gegen Israel.

Der Judenhass drückt sich heutzutage in der Beschimpfung Israels aus. Als jemand, der in Auschwitz geboren wurde, der seinen Vater und viele andere Familienmitglieder dort verloren hat, verzeihen Sie mir, wenn ich nicht schweigend bleibe, wenn so schreckliche Dinge gegen Israel gesagt werden.

Natürlich kann man gewisse Dinge an Israel kritisieren. Oder an Kanada, wo ich lebe. Oder an jedem anderen Land, das es gibt. Sogar Juden kritisieren Israel. Das passiert ständig, glauben Sie mir. Aber so viele Aussagen über Israel überschreiten wirklich eine Grenze, die nie überschritten werden darf.

Israel begeht keinen Massenmord, Assad im benachbarten Syrien schon.
Israel hetzt Kinder nicht dazu auf, Raketen auf Kindergärten zu werfen, die Hamas im Gazastreifen tut es.
Israel ist keine Gefahr für den Weltfrieden, aber der Iran ist eine Gefahr.
Die Menschen schweigen, wenn Tausende in Afrika oder in Asien getötet werden.

Aber solange sie Israel – und den Juden – die Schuld für alles Schlechte in der Welt geben können, fühlen sie sich rechtschaffen. Oder selbstgerecht, würde ich sagen. Israel wurde auch von Überlebenden des Holocausts aufgebaut, von Menschen, die das Schlimmste durchgemacht haben, was einem Menschen passieren kann, und die unglaublich viel Glück hatten, zu überleben. Wir Überlebenden sind so stolz auf das, was Israel heute ist. Die meisten Juden auf der ganzen Welt sind stolz auf Israel.

Wir können versuchen, fair zu sein. Wir können versuchen, aufgeschlossen und nicht voller Vorurteile zu sein.
Und deshalb möchte ich Sie um einen Gefallen bitten: Versucht immer, fair zu sein. Bleiben Sie aufgeschlossen. Bleiben Sie neugierig. Entscheiden Sie sich selbst. Stecken Sie die Leute nicht wegen ihrer Religion oder ihres Aussehens in Kisten.

Und schließlich: Bitte beweist Menschen wie mir, all denen, die glauben, dass der Holocaust wieder passieren kann, dass wir uns irren. Beweisen Sie uns das Gegenteil!

Ich bin ermutigt, wenn ich sehe, dass Menschen auf die Straße gehen, um Juden zu verteidigen, um Solidarität zu zeigen. Es ist hier geschehen, es ist in den letzten Wochen in Paris und in New York geschehen. Es ist wichtig, dass diese Märsche stattfinden.

Es ist auch wichtig, dass Deutschland Verantwortung übernimmt, und ich möchte Angela Merkel für die großzügige Spende der deutschen Regierung an das Auschwitz-Museum danken. Es ist nicht nur eine Entschädigung, sondern eine Investition in die Zukunft. Wir müssen diesen schrecklichen Ort erhalten. Es ist nicht nur der größte jüdische Friedhof, der Ort, an dem mein Vater umgekommen ist. Es muss auch eine ewige Erinnerung für zukünftige Generationen sein.

Wir Überlebenden sind jetzt alte Menschen, ich bin einer der Jüngsten. Also ist es jetzt Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es nicht wieder passiert. Ich vertraue darauf, dass Sie das Richtige tun werden.

Danke für Ihre Geduld, der Geschichte meiner Mutter und meiner Geschichte zuzuhören. Bitte vergessen Sie sie nicht und auch die Millionen, die das gleiche Schicksal wie sie erlitten haben, die Millionen, die ihre Geschichte nicht erzählen konnten, weil sie nicht überlebt haben. Und die Millionen, die überlebt haben, aber nicht über die Schrecken sprechen konnten, die sie durchlebt haben.


Diese Rede hielt Angela Orosz-Richt am 23. Januar 2020 bei der zentralen Gedenkfeier des Internationalen Auschwitz Komitees zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz in Berlin.

 
Stehende Ovationen nach ihrer Rede: Angela Orosz-Richt / Foto: Eva Oertwig/IAK
Stehende Ovationen nach ihrer Rede: Angela Orosz-Richt / Foto: Eva Oertwig/IAK
 
Autor und Ausstellung-Kurator Alwin Meyer, Angela Orosz-Richt (Ausschwitz-Überlebende) / Foto: Eva Oertwig/IAK
Autor und Ausstellung-Kurator Alwin Meyer, Angela Orosz-Richt (Ausschwitz-Überlebende) / Foto: Eva Oertwig/IAK
 
Angela Orosz-Richt, Wladyslaw Osik (Auschwitz-Überlebender, geboren im Juli 1943 in Auschwitz-Birkenau), Nora Sbornik (geboren im April 1945 in Auschwitz) / Foto: Eva Oertwig/IAK
Angela Orosz-Richt, Wladyslaw Osik (Auschwitz-Überlebender, geboren im Juli 1943 in Auschwitz-Birkenau), Nora Sbornik (geboren im April 1945 in Auschwitz) / Foto: Eva Oertwig/IAK
 
Opernsängerin Anne Sofie von Otter / Foto: Eva Oertwig/IAK
Opernsängerin Anne Sofie von Otter / Foto: Eva Oertwig/IAK 
von links: Alwin Meyer, Wladyslaw Osik, Angela Orosz-Richt, Nora Sbornik, Christoph Heubner / Foto: Eva Oertwig/IAK
von links: Alwin Meyer, Wladyslaw Osik, Angela Orosz-Richt, Nora Sbornik, Christoph Heubner / Foto: Eva Oertwig/IAK 
 

In der Ausstellung "Geboren in Auschwitz"

Wladyslaw Osik (Auschwitz-Überlebender, geboren im Juli 1943 in Auschwitz-Birkenau) / Foto: Eva Oertwig/IAK
Wladyslaw Osik (Auschwitz-Überlebender, geboren im Juli 1943 in Auschwitz-Birkenau) / Foto: Eva Oertwig/IAK
 
Wladyslaw Osik (Auschwitz-Überlebender, geboren im Juli 1943 in Auschwitz-Birkenau), Angela Orosz-Richt (Ausschwitz-Überlebende, geboren Dezember 1944 in Auschwitz-Birkenau) / Foto: Eva Oertwig/IAK
Wladyslaw Osik (Auschwitz-Überlebender, geboren im Juli 1943 in Auschwitz-Birkenau), Angela Orosz-Richt (Ausschwitz-Überlebende, geboren Dezember 1944 in Auschwitz-Birkenau) / Foto: Eva Oertwig/IAK
 
Nora Sbornik (geboren im April 1945 in Auschwitz) / Foto: Eva Oertwig/IAK
Nora Sbornik (geboren im April 1945 in Auschwitz) / Foto: Eva Oertwig/IAK