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Marian Turski bei seiner Rede © Wojciech Grabowski/ Muzeum Auschwitz-Birkenau
Marian Turski bei seiner Rede © Wojciech Grabowski/ Muzeum Auschwitz-Birkenau  

 

75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz

Marian Turski sprach über das elfte Gebot: Seine Rede wurde weltweit gehört

Etwa 200 Auschwitz-Überlebende waren zur Gedenkveranstaltung des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz in die Gedenkstätte gekommen: Ihre Stimmen sollten an diesem Tag im Mittelpunkt stehen. Präsidenten, Premierminister und gekrönte Häupter aus vielen Ländern hatten sich versammelt, um den Ermordeten und den Überlebenden ihre Ehre zu erweisen.

Für die Überlebenden sprachen Bat-Sheva Dagan aus Israel, Elsa Baker aus Großbritannien und Stanislaw Zalewski aus Polen. Sie alle erinnerten an die Verfolgung und das Leid der jüdischen Familien, der Sinti und Roma, der polnischen Häftlinge und aller anderen Menschen, die in Auschwitz gequält und ermordet wurden. Sie beschrieben aber auch die gegenwärtigen Herausforderungen durch den weltweit ansteigenden antisemitischen und rechtsextremen Hass.

Marian Turski, jüdisch-polnischer Auschwitz-Überlebender aus Warschau und Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, widmete seine Worte der Generation seiner Enkelkinder und allen jungen Menschen: In seiner berührenden und weltweit zitierten Rede beschrieb er den Weg, der nach Auschwitz geführt hatte und schloss mit dem "elften" Gebot, das von Roman Kent, dem Präsidenten des IAK, formuliert wurde: "Seid nicht gleichgültig!"

 

Im Wortlaut: Die Rede von Marian Turski bei der Gedenkveranstaltung am 27. Januar 2020 in Auschwitz

„Seid nicht gleichgültig, wenn irgendeine Minderheit diskriminiert wird.“

Sehr geehrte Versammelte, Freunde,

ich bin einer der noch Lebenden und einer der Wenigen, die beinahe bis zum letzten Moment vor der Befreiung an diesem Ort gewesen sind. Am 18. Januar begann meine sogenannte Evakuierung aus dem Lager Auschwitz, die sich nach sechseinhalb Tagen für mehr als die Hälfte meiner Mithäftlinge als ein Todesmarsch erwies. Wir waren eine Kolonne von 600 Personen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich den nächsten Jahrestag nicht mehr erleben. So sind die menschlichen Gesetze.

Deshalb verzeihen Sie mir, dass es in dem, was ich sage, ein wenig Gefühlsregung geben wird. Was ich sage, möchte ich vor allem meiner Tochter, meiner Enkelin sagen, der ich dafür danke, dass sie hier im Saal ist, meinem Enkel: es geht mir um die Altersgenossen meiner Tochter, meiner Enkelkinder, also um die neue Generation, insbesondere um die jüngste, die allerjüngste, die sogar noch jünger ist als sie.

Als der Krieg ausbrach, war ich ein Teenager. Mein Vater war Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen und hatte eine schwere Schussverletzung an der Lunge erlitten. Das war für unsere Familie ein Drama. Meine Mutter stammte aus dem polnisch-litauisch-weißrussischen Grenzgebiet, dort waren die Armeen durchgezogen, hin und wieder zurück, sie plünderten, raubten aus, vergewaltigten, brannten Dörfer nieder, damit für diejenigen, die nach ihnen kamen, nichts zurückgelassen wurde. Also kann man sagen, dass ich aus erster Hand, von meinem Vater und meiner Mutter wusste, was Krieg bedeutet. Trotzdem aber erschien er mir, obwohl er nur 20, 25 Jahre zurück lag, so weit entfernt wie die polnischen Aufstände im 19. Jahrhundert, wie die französische Revolution.

Wenn ich heute jungen Menschen begegne, wird mir bewusst, dass sie nach 75 Jahren des Themas etwas überdrüssig sind: sowohl des Krieges, als auch des Holocaust, der Shoah, des Genozids. Ich verstehe sie. Deshalb verspreche ich euch, ihr jungen Menschen, dass ich euch nicht von meinem Leid erzählen werde. Ich werde euch nicht von meinen Erlebnissen erzählen, von meinen zwei Todesmärschen, davon, wie ich das Kriegsende erlebt habe, bei dem ich 32 Kilogramm wog, am Rande der Erschöpfung und des Lebens. Ich werde nicht davon erzählen, was am schlimmsten war, das heißt von der Tragödie, von meinen Nächsten getrennt zu werden, wenn du nach der Selektion ahnst, was sie erwartet. Nein, darüber werde ich nicht sprechen. Ich möchte mit der Generation meiner Tochter und der Generation meiner Enkelkinder über sie selbst sprechen.

Ich sehe, dass unter euch der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen ist. Erinnern Sie sich, Herr Präsident, als Sie mich und das Präsidium des Internationalen Auschwitz Komitees bei sich zu Gast hatten und wir über jene Zeiten sprachen? Irgendwann benutzten Sie die Formulierung „Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen“. Man könnte sagen, es sei, wie man im Polnischen so sagt: eine selbstverständliche Selbstverständlichkeit.

Klar ist es nicht vom Himmel gefallen. Das könnte wie eine banale Feststellung erscheinen, doch in ihr steckt eine tiefe und für das Begreifen sehr wichtige gedankliche Abkürzung. Lassen Sie uns für einen Moment mit unseren Gedanken, unserer Vorstellungskraft in die frühen 1930-er Jahre, nach Berlin zurückgehen. Wir befinden uns fast im Stadtzentrum. Das Viertel heißt Bayerisches Viertel. Drei Stationen vom Ku‘damm und Zoologischen Garten entfernt. Dort, wo heute die U-Bahn-Station ist, befindet sich der Bayerische Park. Und eines Tages taucht in den frühen 1930-er Jahren an den Bänken das Schild auf: „Juden ist das Sitzen auf diesen Bänken verboten“. Man könnte sagen: das ist unangenehm, unfair, nicht OK, aber schließlich gibt es so viele Bänke in der Nähe, man kann sich doch irgendwo anders hinsetzen, es ist kein Unglück.

Es war ein Viertel, in dem Vertreter der deutschen intellektuellen Elite jüdischer Abstammung wohnten, auch Albert Einstein, die Nobelpreisträgerin Nelly Sachs, und der Industrielle, Politiker und Außenminister Walter Rathenau. Danach tauchte im Schwimmbad das Schild „Juden ist der Zutritt zum Schwimmbad verboten“ auf. Man kann wieder sagen: das ist nicht angenehm, aber Berlin hat so viele Orte, an denen man baden kann, so viele Seen, Kanäle, fast wie Venedig, also kann man auch woanders hingehen.

Zugleich taucht irgendwo das Schild „Juden ist die Mitgliedschaft in deutschen Gesangsvereinen verboten“ auf. Na und? Wenn sie singen oder musizieren wollen, sollen sie sich doch getrennt treffen, und sie werden singen können. Dann tauchen die Aufschrift und der Befehl auf: „Für jüdische nichtarische Kinder ist das Spielen mit deutschen, arischen Kindern verboten“. Sie werden allein spielen. Und dann taucht das Schild auf: „An Juden werden Brot und Lebensmittel nur nach 17 Uhr verkauft“. Das ist bereits eine Erschwernis, weil da die Auswahl kleiner ist, aber schließlich kann man auch nach 17 Uhr einkaufen.

Vorsicht, Vorsicht, wir beginnen uns an den Gedanken zu gewöhnen, dass man jemanden ausschließen, jemanden stigmatisieren, jemanden entfremden kann. Und so beginnen die Menschen langsam, stufenweise, einen Tag nach dem anderen, damit vertraut zu werden – sowohl die Opfer, als auch die Täter und die Zeugen, jene, die wir als Bystanders bezeichnen, beginnen sich an den Gedanken und die Idee zu gewöhnen, dass diese Minderheit, die Einstein, Nelly Sachs, Heinrich Heine und die Mendelssohns hervorgebracht hat, anders ist, dass sie aus der Gesellschaft ausgestoßen werden kann, dass es fremde Menschen sind, dass es Menschen sind, die  Krankheitserreger, Epidemien verbreiten. Das ist schon schrecklich, gefährlich. Das ist der Anfang von dem, was gleich folgen kann.

Die damaligen Machthaber führen einerseits eine raffinierte Politik, weil sie zum Beispiel die Forderungen der Arbeiter erfüllen. Der 1. Mai war in Deutschland nie zuvor gefeiert worden – sie tun das, bitte sehr. Am arbeitsfreien Tag führen sie „Kraft durch Freude“ ein. Also ein Element der Arbeiterferien. Sie sind imstande, die Arbeitslosigkeit zu überwinden, sie können mit der Nationalwürde spielen: „Deutsche, erhebt euch aus der Schande von Versailles. Gewinnt euren Stolz zurück“. Und zugleich sehen diese Machthaber, dass die Menschen langsam von Gefühllosigkeit, von Gleichgültigkeit erfasst werden. Sie hören auf, auf das Böse zu reagieren. Und dann können sich die Machthaber erlauben, den Prozess des Bösen weiter zu beschleunigen.

Das Andere folgt dann rasant, also: das Verbot der Anstellung von Juden, Ausreiseverbot. Und danach kommt schnell die Deportation in Ghettos: nach Riga, nach Kaunas, in mein Ghetto, das Ghetto von Łódź – Litzmannstadt. Von wo aus die Meisten dann nach Kulmhof am Ner gebracht werden, wo sie mit Abgasen in LKW’s ermordet werden, und der Rest kommt nach Auschwitz, wo sie mit Zyklon B in modernen Gaskammern ermordet werden. Und hier bewahrheitet sich das, was der österreichische Bundespräsident gesagt hatte: „Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen“. Auschwitz trippelte, machte kleine Schrittchen, kam näher, bis das geschah, was hier geschehen ist.

Meine Tochter, meine Enkelin, ihr als Altersgenossen meiner Tochter, meiner Enkeltochter – vielleicht kennt ihr den Namen Primo Levi nicht. Primo Levi war einer der berühmtesten Häftlinge dieses Lagers. Primo Levi benutzte einmal die folgende Formulierung: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen." Das bedeutet, dass es überall, auf der ganzen Erde geschehen kann.

Ich möchte nur eine persönliche Erfahrung mit euch teilen: 1965 war ich bei einem Stipendium in den Vereinigten Staaten, in Amerika, und es war damals der Gipfel des Kampfes um Menschenrechte, Bürgerrechte, um Rechte für die afroamerikanische Bevölkerung. Ich hatte die Ehre, am Selma-Montgomery-Marsch mit Martin Luther King teilzunehmen. Und da fragten mich die Menschen, als sie erfuhren, dass ich in Auschwitz gewesen bin: „Was denkst du, ob so etwas nur in Deutschland möglich gewesen ist? Oder könnte es auch woanders passieren?“. Und ich sagte ihnen: „Das kann auch bei euch passieren. Wenn Bürgerrechte verletzt, wenn die Rechte von Minderheiten nicht respektiert werden, wenn man sie abschafft. Wenn man das Recht so beugt, wie es in Selma geschehen ist, dann kann das passieren.“ „Was kann man dagegen tun?“ „Ihr selbst könnt es tun“, sagte ich ihnen. „Wenn ihr im stande seid, eure Verfassung, eure Rechte, eure demokratische Ordnung zu verteidigen, indem ihr die Rechte von Minderheiten schützt – dann könnt ihr es besiegen.“

Wir in Europa stammen mehrheitlich aus der jüdisch-christlichen Tradition. Sowohl gläubige, als auch nicht gläubige Menschen betrachten die zehn Gebote als ihren zivilisatorischen Kanon. Mein Freund, der Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees Roman Kent, der vor fünf Jahren an dieser Stelle beim letzten Jubiläum eine Rede gehalten hatte, konnte heute nicht hierher kommen. Er hat sich ein 11. Gebot ausgedacht, das die Erfahrung der Shoah, des Holocausts, der schrecklichen Epoche der Verachtung darstellt. Es lautet: Du sollst nicht gleichgültig sein.

Und das würde ich gern meiner Tochter sagen, das möchte ich meinen Enkelkindern sagen. Den Altersgenossen meiner Tochter, meiner Enkelkinder, wo auch immer sie leben: in Polen, in Israel, in Amerika, Westeuropa, Osteuropa. Das ist sehr wichtig. Seid nicht gleichgültig, wenn ihr historische Lügen seht. Seid nicht gleichgültig, wenn ihr seht, dass die Vergangenheit für aktuelle politische Zwecke missbraucht wird. Seid nicht gleichgültig, wenn irgendeine Minderheit diskriminiert wird. Das Wesen der Demokratie besteht darin, dass die Mehrheit regiert, doch die Demokratie besteht darin, dass die Rechte von Minderheiten geschützt werden müssen. Seid nicht gleichgültig, wenn irgendeine Regierung gegen bereits existierende, gebräuchliche gesellschaftliche Verträge verstößt. Seid dem Gebot treu. Dem elften Gebot: Du sollst nicht gleichgültig sein.

Denn wenn du gleichgültig sein wirst, so wird – ehe du dich versiehst – auf euch, auf eure Nachfahren plötzlich irgendein Auschwitz vom Himmel fallen.

 

Diese Rede hielt Marian Turski am 27. Januar 2020 bei der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz in Auschwitz-Birkenau.