IAK :: Erinnern an gestern, Verantwortung für morgen

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Rede von Marian Turski zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, verehrte Damen und Herren, liebe Freunde!

Die Kräfte der Überlebenden von Auschwitz lassen nach, aber nicht unser Wille, Ihnen und vor allem den jungen Menschen zu erzählen, was uns vor und in Auschwitz widerfahren ist, als wir so alt waren, wie sie es heute sind. Auch meine Kräfte lassen nach und deshalb habe ich mich schweren Herzens entscheiden müssen, heute nicht nach Berlin reisen zu können, die Stadt in der das Büro des Internationalen Auschwitz Komitees zu Gast sein darf und in der ich viele Freunde habe. 

Damals, meine Damen und Herren, damals war Berlin die Stadt, in der Auschwitz geplant und von der aus Auschwitz organisiert und abgerechnet wurde: Die Größe der Gaskammern, die Leistungsfähigkeit der Krematoriumsöfen und auch die Höhe des Gewinns, den die SS mit der Sklavenarbeit von uns Häftlingen verdiente.

Es ist schwer, jungen Menschen heute zu vermitteln, was damals wirklich in Auschwitz geschah: Ich war sechzehn, ein junger polnischer Jude, als ich 1940 nach der Besetzung Polens durch die deutsche Wehrmacht mit meiner Familie im Ghetto von Lodz eingesperrt wurde, Hunger, Elend und Angst und dennoch der Wille von uns jungen Menschen, die sie auch dort zur Arbeit zwangen, sich in einer Untergrundgruppe zu bilden, zu diskutieren, zu hoffen – sich nicht dem Verdammungs- und dem Todesurteil der SS zu beugen, sondern die eigene Würde als Jude und als Mensch zu verteidigen. 

So wie es Noah Flug, einer meiner Freunde, uns im Ghetto gelehrt hat: Jeden Tag forderte er von uns einen Löffel unserer Suppe für einen Kranken, der sie noch dringender brauchte als wir. 

Eigenartig, liebe Freunde: Unsere Gruppe junger Menschen hatte im Ghetto einen unglaublichen Schatz besessen, ein Radio, abends im Dunkel hockten wir heimlich gemeinsam davor und in die Dunkelheit hinein hörten wir die Stimmen der BBC, zerhackt und schnarrend, aber es war die Stimme der freien Welt und die Stimme der Wahrheit über den Stand des Krieges und die Realität unserer Hoffnungen, den Terror der SS zu überleben. An diesem Abend berichtete die BBC über einen Ort namens Auschwitz: 

Wir hatten diesen Namen noch nie gehört: Die Deutschen brächten die Juden mit Viehwaggons dorthin, es gäbe eine lange, beleuchtete Rampe an der die Züge ankämen, dann gäbe es eine Selektion und die, die für den Tod ausgewählt würden: - Frauen, Kinder, Alte und Kranke zuerst - würden direkt nach der Ankunft in Gaskammern geführt, wo sie getötet und anschließend verbrannt würden. 

Wenige Tage später mussten wir die Viehwaggons besteigen, wohin die Reise ging, wussten wir nicht: Nach der Ankunft des Zuges sah ich die Rampe, hörte die Hunde, dann folgte die Selektion und als sie uns einen langen Weg durch das Lager führten war mir klar, wie der Ort hieß, an den sie uns gebracht hatten und plötzlich war die Stimme aus dem Radio in meinem Ohr und ich erinnerte mich an den Satz - direkt nach der Ankunft werden die Menschen ins Gas geführt - ins Gas? Ich wusste nicht, ob mein Leben in kurzer Zeit zu Ende sein würde. 

Nein, diesen Tag hatte ich überlebt, ich wurde ins Lager aufgenommen, mir wurde die Nummer tätowiert, nur in Auschwitz hat die SS die Häftlinge tätowiert, sie als ihren Besitz gekennzeichnet.

Im Januar 1945 dann wurden wir vor der heranrückenden Roten Armee auf dem sogenannten Todesmarsch aus Auschwitz fortgetrieben, Eis und Schnee, viele starben auf dem Marsch, wurden von der SS an Ort und Stelle erschossen, wenn sie nicht mehr konnten. 

Befreit wurde ich am 9.Mai 1945 im Lager Theresienstadt, mehr tot als lebendig, ein Überlebender wie so viele und ich war zwanzig Jahre alt. 

Warum, meine Damen und Herren, erzähle ich Ihnen das? Bitte ich, bitten wir, die Überlebenden Sie um Ihr Mitleid? Nein, nicht um Mitleid: Wir bitten Sie um Ihr Mitgefühl und um Ihr Mitdenken:

 Denken Sie nach darüber, wo und wie Auschwitz begann, denken Sie darüber nach, welchen Hass der Antisemitismus immer wieder neu entfacht, denken Sie darüber nach, wie es heute um Sie, um die Demokratie und um Ihre Gesellschaft steht und wie Sie sich Ihre Zukunft vorstellen! Denken Sie darüber nach, in wie vielen europäischen Ländern rechtsextreme Parteien die alten Nazi-Parolen mit neuem Hass verbinden und besonders junge Menschen bei ihrem Kampf gegen die Demokratie gewinnen wollen. 

Von Primo Levi, meine Freunde, einem der berühmtesten Häftlinge von Auschwitz, stammt der Satz: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“  

Dieser Satz ist aktueller denn je und er steht über allen Erinnerungen und Erfahrungen, die Auschwitz-Überlebende an Sie weitergegeben haben, aber er steht auch und vor allem als Warnung und Erinnerung über unserer Zeit und Ihrer Zukunft.  

In Europa, sehr geehrte Damen und Herren, betrachten wir – ob gläubig oder nicht gläubig - die zehn Gebote als unseren zivilisatorischen Kanon. Mein Freund Roman Kent, der mit mir im Ghetto in Lodz und später auch in Auschwitz inhaftiert war, hat den zehn Geboten ein Elftes hinzugefügt, das die Erfahrung der Shoah, des Holocaust, der schrecklichen Epoche der Verachtung darstellt. Es lautet:

Du sollst nicht gleichgültig sein!

 Das ist meine Botschaft an die, die nach mir kommen, an die jungen Menschen, an Sie alle: Seid nicht gleichgültig! Seid nicht gleichgültig, wenn rechtsextremer und antisemitischer Hass durch die Gesellschaft zieht, seid nicht gleichgültig, wenn Minderheiten diskriminiert werden, seid nicht gleichgültig, wenn großmäuliger Populismus die Welt für sich beschlagnahmen will, seid nicht gleichgültig bei Krieg und Gewalt. Seid dem Gebot treu, dem elften Gebot: Du sollst nicht gleichgültig sein!

Meine Damen und Herren, ich bin dankbar, dass heute Hannah Lessing, die österreichische Vizepräsidentin unseres Komitees, meine Worte an Sie verlesen hat:

Wir geben unsere Erinnerungen, unsere Worte und unsere Stimme weiter. Unsere Tage, die der Überlebenden, sind gezählt: Aber wir werden nicht verstummen, wenn Sie, Sie alle nicht schweigen!!

 

zu den Fotos und Video-Aufzeichnungen der Gedenkveranstaltung