Quelle: eu-info.de
Von Eva Krafczyk, dpa
Die Bilder vom Elend der Flüchtlinge und den Tragödien auf ihrem Weg nach Europa reißen bei Holocaust-Überlebenden alte Wunden auf. Erinnerungen an die verzweifelte Suche nach einem sicheren Land werden wach.
Warschau/Budapest (dpa) - Es gibt viel Solidarität mit Flüchtlingen
zu beobachten in diesen Tagen, aber auch Ablehnung, Gleichgültigkeit, und eine Bürokratie, die aus Menschen Nummern macht. Bilder von überfüllten Booten und toten Kindern an den Ufern des Mittelmeers, vom ungarischen Grenzstacheldraht gegen Flüchtlinge, von den Nummern, die bei einem Flüchtlingstransport auf die Hände von Syrern, Eritreern oder Afghanen gekritzelt werden - sie lassen alte Wunden aufreißen und Alpträume wiederkehren, nicht nur bei Roman Kent.
Der 86-jährige Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, der im polnischen Lodz geboren wurde und heute in den USA lebt, hat Auschwitz, Dachau und andere deutsche Konzentrationslager überlebt. Was er jetzt sieht, erinnert Kent an die verzweifelte Suche der europäischen Juden nach einer sicheren Zuflucht. «Damals war das Boot voll, und die Herzen waren leer», sagte er vor wenigen Tagen bei einer Begegnung mit deutschen Jugendlichen in der Gedenkstätte Auschwitz.
Und auch bei anderen werden nun böse Erinnerungen wach. «Das ist ein Bild, das wir nicht ertragen können», sagte Ruth Dureghello, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Roms, über die Markierung von Flüchtlingen mit Filzstiften durch tschechische Polizisten. Bilder davon sorgten in Sozialen Netzwerken über die Landesgrenzen hinaus für Empörung.
Maram Stern, Vize-Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses, schrieb in einem Kommentar: «Viele Juden blenden beim Anblick der Flüchtenden im kollektiven Gedächtnis wahrscheinlich 80 Jahre zurück.» Auch damals seien die Grenzen der meisten Staaten geschlossen gewesen. Schlimmer noch: «Flüchtende Juden wurden von manchen Ländern sogar nach Nazi-Deutschland zurückgeschickt, als schon klar war, was sie dort erwarten würde.» Die Grenzen Europas dicht zu machen, sei damals wie heute nicht die passende Antwort.
Mit dem Bau eines Zaunes aus rasiermesserscharfem Nato-Stacheldraht an seiner Grenze zu Serbien hat Ungarn auf die Tausenden Menschen reagiert, die über die sogenannte Balkan-Route nach Europa zu gelangen versuchen. Ungarische Holocaust-Überlebende klagen seit langem über den innenpolitischen Kurs des rechtskonservativen Regierungschefs Viktor Orban, über Hetze gegen die Roma-Minderheit, wodurch sich auch die ungarischen Juden an die Pogromstimmung vor fast 80 Jahren erinnert fühlen.
Und nun dieser Zaun. «Jüdische Auschwitz-Überlebende in Ungarn empfinden das Taktieren ihrer Regierung in der Flüchtlingsfrage als abstoßend» sagt Christoph Heubner, Vize-Exekutivpräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees.
Die Szenen auf dem Budapester Bahnhof Keleti wühlten viele Überlebende auf, sagt Heubner. «Sie sehen Familien, Frauen und Kinder, Menschen, die verzweifelt versuchen, zusammenzubleiben, um ein Ziel der Hoffnung zu erreichen - und das alles erinnert sie fatal an ihr eigenes Schicksal, ihre eigenen Ängste und die Gleichgültigkeit so vieler, die ihrem Elend zugesehen haben.»
Umso wichtiger sind gerade für einstige Nazi-Opfer die anderen Bilder, die von Solidarität und Hilfsbereitschaft. «Es ist wichtig, dass Deutschland in der Flüchtlingsfrage eine Haltung an den Tag legt, die nicht auf Abschottung zielt, sondern auf menschliche Lösungen», betont Stern. «Deutschland zieht die richtigen Lehren aus seiner Geschichte. Die Judenverfolgung der Nazis und später der Zweite Weltkrieg waren damals ursächlich für gewaltige Flüchtlingsströme. Die gewaltige Welle der Solidarität überrascht, aber sie tut gut.»
Ganz so positiv sieht Kent die Lage nicht. «Wie über die Not und die Probleme der Flüchtlinge heute an vielen Orten gesprochen wird, das ist gefühlskalt und hetzerisch», meint er. «Ich bin mir nicht mehr sicher, ob die Welt, in die heute Kinder hineingeboren werden, nicht noch weniger vertrauenswürdig ist als die, in die wir hineingeboren wurden. Das ist ein sehr bitteres Fazit für einen alten Mann.»
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